Veröffentlicht am Mai 12, 2024

Herzprobleme bei Frauen sind kein „psychosomatisches Problem“, sondern ein systemisches Versagen einer Medizin, die den männlichen Körper als Norm definiert.

  • Die Forschung, Diagnostik und Dosierung von Medikamenten basieren oft auf Studien an Männern, was zu Fehldiagnosen und gefährlichen Nebenwirkungen bei Frauen führt.
  • Weibliche Symptome eines Herzinfarkts (z. B. Übelkeit, Müdigkeit) werden häufig als unspezifisch abgetan, was lebensrettende Zeit kostet.

Empfehlung: Fordern Sie bei Herzbeschwerden eine geschlechtersensible Diagnostik ein und hinterfragen Sie pauschale Standardbehandlungen. Ihre Biologie ist keine Ausnahme, sondern die Regel für Sie.

Ihr Herz rast, Sie spüren eine unerklärliche Übelkeit, eine bleierne Müdigkeit, die Sie lähmt – doch in der Arztpraxis werden Sie mit einem verständnisvollen Nicken und dem Satz „Das ist sicher nur der Stress“ nach Hause geschickt. Diese Erfahrung, die unzählige Frauen in Deutschland machen, ist mehr als nur frustrierend. Sie ist ein Symptom eines tief verwurzelten Problems in unserem Gesundheitssystem, das lebensgefährlich sein kann: die sogenannte „Bikini-Medizin“.

Dieser zynische Begriff beschreibt eine medizinische Sichtweise, die Frauen nur in Bezug auf ihre reproduktiven Organe – Brust und Unterleib, das, was ein Bikini bedeckt – als biologisch eigenständig wahrnimmt. Der Rest des Körpers, vom Herzen über die Leber bis zum Gehirn, wird jedoch oft durch eine männliche Schablone betrachtet. Die Folge ist ein systemischer Bias, eine Voreingenommenheit, die in der Forschung beginnt, sich in den Lehrbüchern fortsetzt und in der Notaufnahme fatale Konsequenzen haben kann.

Dieser Artikel ist mein Plädoyer als Gendermedizinerin. Ein Plädoyer, diese gefährliche Ignoranz zu beenden und die weibliche Biologie endlich als das anzuerkennen, was sie ist: nicht die Abweichung von der Norm, sondern eine eigene, komplexe Realität. Wir werden aufdecken, warum die klassischen Herzinfarkt-Symptome oft nicht auf Sie zutreffen, warum Standard-Medikamente für Sie eine Überdosis sein können und wie der weibliche Hormonhaushalt Ihr Herz-Kreislauf-System ein Leben lang beeinflusst. Es ist an der Zeit, dass wir aufhören, Frauenherzen falsch zu verstehen.

Um die komplexen Zusammenhänge zu verstehen, beleuchten wir in den folgenden Abschnitten die entscheidenden Unterschiede und Risiken – von den Symptomen über die Medikamentenwirkung bis hin zu den hormonellen Einflüssen in den verschiedenen Lebensphasen.

Übelkeit statt Brustschmerz: Warum Frauen oft zu spät den Notarzt rufen

Das Bild des Mannes, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Brust fasst, ist das klassische Symbol für einen Herzinfarkt. Dieses Bild hat sich so tief in unser kollektives Bewusstsein eingebrannt, dass Frauen ihre eigenen, oft völlig anderen Symptome, nicht als lebensbedrohlichen Notfall erkennen. Statt eines vernichtenden Brustschmerzes leiden sie häufiger unter einem starken Druck- oder Engegefühl in Brust, Oberbauch, zwischen den Schulterblättern oder im Kiefer. Hinzu kommen Symptome, die leicht mit einer Grippe oder Magenverstimmung verwechselt werden: starke Übelkeit, Erbrechen, Kurzatmigkeit und eine unerklärliche, extreme Müdigkeit.

Diese „untypischen“ Anzeichen führen dazu, dass Frauen ihre Beschwerden bagatellisieren, sie auf Stress oder andere Ursachen schieben und zögern, den Notruf 112 zu wählen. Die Konsequenzen sind fatal. Eine Studie des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung zeigt, dass Frauen über 65 Jahre im Schnitt erst 4,5 Stunden nach Symptombeginn in der Klinik eintreffen – eine volle Stunde später als Männer. Diese verlorene Stunde kann den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten, denn beim Herzinfarkt zählt jede Minute, um den Herzmuskel zu retten.

Nahaufnahme der Hand einer reiferen Frau, die ein medizinisches Notfallarmband trägt.

Das Zögern hat zwei Ursachen: Frauen nehmen ihre Symptome selbst nicht ernst, und sie werden auch im Umfeld und manchmal sogar von medizinischem Personal nicht ernst genommen. Der Verdacht fällt zu oft auf Panikattacken oder psychosomatische Beschwerden. Diese diagnostische Lücke ist ein direktes Resultat einer Medizin, die den männlichen Infarkt als Goldstandard definiert hat und die weibliche Variante als seltene Ausnahme behandelt.

Um die Dringlichkeit zu verinnerlichen, ist es entscheidend, sich die Spezifika der weiblichen Herzinfarkt-Symptome immer wieder vor Augen zu führen.

Brauchen Frauen weniger Betablocker? Warum Standarddosen oft zu Nebenwirkungen führen

Die „männliche Norm“ in der Medizin endet nicht bei den Symptomen. Sie setzt sich bei der Behandlung fort und führt zu einer regelrechten pharmakologischen Falle. Medikamente wie Betablocker, die den Blutdruck und die Herzfrequenz senken, werden Frauen oft in der gleichen Standarddosis verschrieben wie Männern. Das ignoriert fundamentale biologische Unterschiede: Frauen sind im Durchschnitt kleiner und leichter, haben einen anderen Körperfettanteil und einen anderen Stoffwechsel.

Studien zeigen, dass Frauen bestimmte Betablocker langsamer abbauen. Dadurch können sich höhere Wirkstoffkonzentrationen im Blut ansammeln. Das Resultat: Die beabsichtigte Wirkung wird überschritten, Blutdruck und Puls sinken zu stark, und das Risiko für schwerwiegende Nebenwirkungen wie Schwindel, extreme Erschöpfung oder Stürze steigt signifikant an. Viele Frauen leiden unter diesen Nebenwirkungen, ohne zu wissen, dass die Ursache eine für sie zu hohe Dosis ist. Sie fühlen sich krank durch ein Medikament, das sie eigentlich schützen soll.

Führende Expertinnen und Experten auf dem Gebiet der Gendermedizin warnen seit Jahren vor dieser Praxis. Wie Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek, eine Pionierin der Gendermedizin in Deutschland, betont, ist das Problem systemisch:

Viele Frauen würden auf diese Weise überdosiert. Häufig reichen bei Frauen 40 Prozent der Dosis, um den gleichen Effekt zu erzielen.

– Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek, Ärzteblatt

Diese Erkenntnis erfordert ein radikales Umdenken bei der Verschreibung. Anstatt einer „One-Size-Fits-All“-Logik brauchen wir eine personalisierte Dosierung, die Geschlecht, Gewicht und individuellen Metabolismus berücksichtigt. Solange dies nicht Standard ist, müssen Frauen lernen, ihren Körper genau zu beobachten und bei starken Nebenwirkungen eine Dosisanpassung aktiv bei ihrem Arzt einzufordern.

Die Erkenntnis, dass Standarddosierungen für Frauen problematisch sein können, ist ein zentraler Baustein für eine sichere Herztherapie.

Fast nur Frauen betroffen: Wenn emotionaler Stress das Herz lähmt

Der Begriff vom „gebrochenen Herzen“ ist mehr als nur eine Metapher. Es gibt eine reale, akute Herzerkrankung, die fast ausschließlich Frauen trifft und oft durch extremen emotionalen Stress ausgelöst wird: das Takotsubo-Syndrom, auch als „Broken-Heart-Syndrom“ bekannt. Der Auslöser kann ein traumatisches Ereignis sein, wie der Tod eines geliebten Menschen, aber auch positiver Stress. Die Symptome – akute Brustschmerzen, Luftnot und EKG-Veränderungen – ähneln dabei denen eines Herzinfarkts so stark, dass selbst in der Notaufnahme oft eine Fehldiagnose gestellt wird.

Das Erschreckende: Im Gegensatz zum klassischen Herzinfarkt sind die Herzkranzgefäße beim Takotsubo-Syndrom nicht verschlossen. Stattdessen verkrampft sich die linke Herzkammer durch eine massive Ausschüttung von Stresshormonen und nimmt eine ballonartige Form an. Das Herz ist vorübergehend gelähmt und kann nicht mehr richtig pumpen. Daten aus dem internationalen GEIST-Register zeigen, dass rund 90 % der Fälle Frauen betreffen, meist nach der Menopause. Dies legt einen starken Zusammenhang mit dem weiblichen Hormonsystem und der Reaktion auf Stress nahe.

Lange Zeit wurde das Takotsubo-Syndrom als harmlose, „psychosomatische“ Reaktion abgetan. Heute wissen wir, dass es in der Akutphase genauso gefährlich sein kann wie ein schwerer Herzinfarkt und zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen kann. Die Deutsche Herzstiftung warnt eindringlich davor, diese Erkrankung zu unterschätzen.

Die Existenz des Takotsubo-Syndroms ist der ultimative Beweis dafür, wie eng die Verbindung zwischen emotionaler Verfassung und körperlicher Herzgesundheit bei Frauen ist. Es zeigt, dass der Satz „Das ist nur der Stress“ eine grobe und gefährliche Vereinfachung sein kann. Die spezifische Vulnerabilität von Frauenherzen gegenüber emotionalen Belastungen muss in der Kardiologie endlich die Anerkennung finden, die sie verdient.

Das Verständnis für spezifisch weibliche Herzerkrankungen wie das Takotsubo-Syndrom ist entscheidend, um Fehldiagnosen zu vermeiden.

Pille, Schwangerschaft, Menopause: Wie weibliche Hormone das Herzrisiko steuern

Das Herz-Kreislauf-Risiko einer Frau ist keine statische Größe. Es unterliegt einem ständigen Wandel, der untrennbar mit den hormonellen Zyklen ihres Lebens verbunden ist. Von der ersten Pille bis zur Zeit nach der Menopause steuern Östrogen und andere Hormone das Risiko maßgeblich. Vor den Wechseljahren bietet ein hoher Östrogenspiegel einen relativen natürlichen Schutz: Das Hormon hält die Gefäße elastisch und beeinflusst die Blutfettwerte positiv. Doch dieser Schutz ist trügerisch und kann durch bestimmte Faktoren ausgehebelt werden.

So erhöhen bestimmte Antibabypillen in Kombination mit Rauchen das Thromboserisiko, und Erkrankungen wie Migräne mit Aura oder das Polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS) sind eigenständige Risikofaktoren. Auch die Schwangerschaft ist ein Stresstest für das gesamte Herz-Kreislauf-System. Komplikationen wie Bluthochdruck (Präeklampsie) oder ein Schwangerschaftsdiabetes sind nicht nur temporäre Probleme, sondern deutliche Warnsignale für ein langfristig erhöhtes Herzinfarktrisiko im späteren Leben.

Wie eine Analyse der Deutschen Herzstiftung zeigt, verändert sich das Risiko in den Lebensphasen dramatisch:

Herzrisiko in verschiedenen Lebensphasen der Frau
Lebensphase Hormoneller Status Kardiovaskuläres Risiko Besondere Risikofaktoren
Vor Menopause Hoher Östrogenspiegel Niedrig (Schutzfunktion) Pille, Rauchen, Migräne mit Aura
Schwangerschaft Hormonelle Schwankungen Erhöht bei Präeklampsie Schwangerschaftsdiabetes, Bluthochdruck
Nach Menopause Niedriger Östrogenspiegel Deutlich erhöht Viszerales Bauchfett, Lipoprotein(a)

Diese lebenslange Perspektive fehlt in der ärztlichen Praxis oft. Die gynäkologische und die kardiologische Anamnese werden selten miteinander verknüpft. Eine Frau, die mit 55 Jahren über Herzbeschwerden klagt, wird selten gefragt, ob sie vor 25 Jahren eine Präeklampsie hatte. Genau diese Verknüpfung ist aber der Schlüssel zu einer echten, frauenspezifischen Prävention.

Die Betrachtung des lebenslangen hormonellen Einflusses ist für eine realistische Risikobewertung unerlässlich.

Warum Medikamente oft nur an männlichen Mäusen getestet wurden

Die Wurzel der „Bikini-Medizin“ liegt tief in der Geschichte der medizinischen Forschung. Über Jahrzehnte hinweg wurde der männliche Körper als universelle Norm betrachtet. Das hatte pragmatische, aber fatale Gründe: Männliche Zellen, männliche Versuchstiere und männliche Probanden galten als „einfacher“, da sie nicht durch hormonelle Zyklen beeinflusst werden. Weibliche Körper wurden als zu kompliziert und ihre hormonellen Schwankungen als Störfaktor in Studien angesehen. Also schloss man sie systematisch aus.

Das Ergebnis ist eine Wissenslücke, die bis heute nachwirkt. Von den Grundlagen in der Zellbiologie bis hin zu den großen klinischen Medikamentenstudien – die Datenbasis ist überwiegend männlich. Dr. Burkhard Sievers, ein deutscher Gendermediziner, bringt das Problem auf den Punkt:

Die Lehrbücher sind ziemlich männerbasiert und selbst bei Studien zur Entwicklung von Arzneimitteln werden Untersuchungen vor allem an männlichen Mäusen vorgenommen.

– Dr. Burkhard Sievers, Interview vigo.de

Erst seit den 1990er-Jahren gibt es in den USA und später auch in Europa gesetzliche Vorgaben, Frauen in klinische Studien einzubeziehen. Doch Jahrzehnte der Vernachlässigung lassen sich nicht über Nacht aufholen. Viele Medikamente, die heute auf dem Markt sind, wurden primär an Männern getestet. Wir beginnen erst jetzt zu verstehen, warum Frauen auf manche Medikamente anders reagieren oder unter anderen Nebenwirkungen leiden.

Fallbeispiel: Ein Leuchtturm in der deutschen Medizinlandschaft

Ein positives Gegenbeispiel ist das Engagement von Dr. Lena Seegers. Sie leitet in Frankfurt das einzige universitäre Frauenherzzentrum Deutschlands. Dieses Zentrum bündelt Forschung, Lehre und Behandlung, um die Versorgung von Frauen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen gezielt zu verbessern. Es ist ein Leuchtturmprojekt, das zeigt, wie eine moderne, geschlechtersensible Medizin aussehen kann und dringend mehr Nachahmer in ganz Deutschland benötigt.

Die historische Vernachlässigung in der Forschung erklärt, warum die Medizin heute oft noch blind für weibliche Biologie ist.

Warum das Herzinfarkt-Risiko bei Frauen nach den Wechseljahren dramatisch steigt

Die Menopause ist mehr als nur das Ende der Fruchtbarkeit; sie ist ein Wendepunkt für die Herzgesundheit. Mit dem Abfall des schützenden Hormons Östrogen beginnt für Frauen ein Wettlauf gegen die Zeit, den viele unterschätzen. Während Frauen vor der Menopause ein deutlich geringeres Herzinfarktrisiko als Männer haben, gleicht es sich nach den Wechseljahren nicht nur an – es überholt das männliche Risiko teilweise sogar. Nach Angaben der AOK erkranken Frauen im Durchschnitt 10 bis 15 Jahre später an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, doch die Verläufe sind dann oft schwerwiegender.

Der Östrogenverlust hat weitreichende Folgen: Die Blutfettwerte, insbesondere das „schlechte“ LDL-Cholesterin, steigen an. Der Blutdruck nimmt tendenziell zu. Gleichzeitig neigen Frauen nach der Menopause dazu, vermehrt viszerales Bauchfett anzulagern – ein besonders stoffwechselaktives Fett, das entzündungsfördernde Botenstoffe ausschüttet und das Herz direkt schädigt. Plötzlich werden Risikofaktoren wie Übergewicht, Bluthochdruck und Diabetes, die vorher vielleicht latent vorhanden waren, akut gefährlich.

Diese biologische Zäsur wird im Gesundheitsbewusstsein kaum abgebildet. Während Männer ab 40 zur kardiologischen Vorsorge ermutigt werden, wiegen sich viele Frauen in ihrem Alter noch in falscher Sicherheit. Die Prävention muss daher viel früher und gezielter ansetzen. Für Frauen ab 50 ist es nicht nur ratsam, sondern überlebenswichtig, ihre Herzgesundheit aktiv in die Hand zu nehmen.

Ihr Aktionsplan 50+ zur Herzinfarkt-Prävention

  1. Vorsorge neu bewerten: Nutzen Sie den allgemeinen „Check-up 35“ (oder einen späteren) als Anlass für eine explizit kardiologische Risikobewertung bei Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt.
  2. Ernährung anpassen: Integrieren Sie gezielt Phytoöstrogene (z. B. aus Soja, Leinsamen) in Ihre Ernährung, um den Hormonabfall teilweise zu puffern.
  3. Bewegung kombinieren: Ergänzen Sie Ausdauersport (z. B. Walken, Radfahren) mindestens zweimal pro Woche durch gezieltes Krafttraining zum Erhalt der Muskelmasse.
  4. Wichtige Blutwerte kennen: Lassen Sie neben den Standard-Cholesterinwerten auch Ihren Lipoprotein(a)-Wert bestimmen – ein oft übersehener, genetischer Risikofaktor.
  5. Sicherheit schaffen: Wenn Sie allein leben, ziehen Sie die Einrichtung eines Hausnotrufsystems in Betracht, um im Ernstfall schnell Hilfe rufen zu können.

Besonders nach der Menopause ist es entscheidend, die veränderten Risikofaktoren zu kennen und proaktiv zu handeln.

Warum ist das Belastungs-EKG bei Frauen oft ungenauer als bei Männern?

Das Belastungs-EKG auf dem Fahrradergometer ist ein Standardverfahren zur Diagnose von Durchblutungsstörungen des Herzens. Bei Frauen liefert es jedoch häufiger unklare oder sogar falsch-positive Ergebnisse als bei Männern. Das bedeutet, das EKG zeigt eine Herzerkrankung an, obwohl die Herzkranzgefäße in der anschließenden Herzkatheter-Untersuchung völlig unauffällig sind. Dieser Umstand führt nicht nur zu unnötiger Angst und invasiven Folgeuntersuchungen, sondern auch zu einer tiefen Verunsicherung.

Die Gründe für diese diagnostische Ungenauigkeit sind vielfältig. Hormonelle Einflüsse, ein kleineres Herzvolumen und Unterschiede in der elektrischen Erregungsleitung des Herzens können die EKG-Signale bei Frauen verändern und falsch interpretierbar machen. Anstatt diesen Unterschied als gegeben hinzunehmen und nach besseren Methoden zu suchen, führt er oft dazu, dass die Beschwerden der Frau erneut als „nicht organisch“ oder „psychosomatisch“ eingestuft werden, wenn der erste, ungenaue Test kein klares Ergebnis liefert.

Glücklicherweise gibt es präzisere Alternativen. Bildgebende Verfahren wie die Stressechokardiographie (Herzultraschall unter Belastung) oder die Myokardszintigraphie können die Pumpfunktion und Durchblutung des Herzens direkt sichtbar machen und liefern bei Frauen deutlich zuverlässigere Ergebnisse. Diese Verfahren sind zwar aufwendiger, aber oft der einzige Weg, um eine koronare Herzkrankheit bei Frauen sicher zu diagnostizieren oder auszuschließen. Es ist entscheidend, dass Frauen und ihre Ärzte diese Alternativen kennen und bei unklaren Befunden einfordern.

Die höhere Komplikationsrate bei Frauen zeigt sich auch bei invasiven Eingriffen. Eine Untersuchung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) ergab, dass nach Herzkatheter-Eingriffen bei Frauen mehr als doppelt so oft Komplikationen auftraten wie bei Männern, und auch die Sterblichkeit im Krankenhaus war signifikant höher. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, Diagnostik und Therapie präziser auf die weibliche Anatomie und Physiologie abzustimmen.

Die Kenntnis über die Limitationen des Belastungs-EKGs bei Frauen ist der erste Schritt zu einer besseren Diagnostik.

Das Wichtigste in Kürze

  • Herzinfarkt-Symptome bei Frauen sind oft untypisch (Übelkeit, Müdigkeit) und werden fehlinterpretiert.
  • Die „männliche Norm“ in Forschung und Medikamentendosierung führt zu Fehldiagnosen und gefährlichen Nebenwirkungen.
  • Hormonelle Phasen (Pille, Schwangerschaft, Menopause) verändern das Herzrisiko einer Frau lebenslang.

Wie hoch ist Ihr Herz-Risiko im Vergleich zu gleichaltrigen Deutschen wirklich?

Die Auseinandersetzung mit der Gendermedizin ist kein rein akademisches Thema – sie ist ein direkter Aufruf, Ihre eigene Herzgesundheit selbst in die Hand zu nehmen. Eine realistische Einschätzung Ihres persönlichen Risikos ist der erste und wichtigste Schritt. Dieses Risiko setzt sich nicht nur aus den klassischen Faktoren wie Blutdruck, Cholesterin und Diabetes zusammen. Es ist ein Mosaik aus Ihrer gesamten Lebens- und Gesundheitsgeschichte, bei dem spezifisch weibliche Aspekte eine zentrale Rolle spielen.

Bereiten Sie sich auf Ihr nächstes Arztgespräch vor. Gehen Sie nicht nur mit Ihren aktuellen Beschwerden in die Praxis, sondern mit einer vollständigen Übersicht Ihrer persönlichen Risikobiografie. Dazu gehören Fragen, die oft im Kardiologen-Alltag untergehen: Hatten Sie während einer Schwangerschaft eine Präeklampsie oder einen Schwangerschaftsdiabetes? Leiden Sie unter einer Autoimmunerkrankung wie Rheuma oder Lupus, die mit chronischen Entzündungen einhergehen? Ist bei Ihnen eine Migräne mit Aura bekannt? All dies sind anerkannte, aber oft ignorierte Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen.

Heller und moderner medizinischer Beratungsraum, der Professionalität und Vertrauen ausstrahlt.

Indem Sie diese Punkte aktiv ansprechen, verändern Sie die Dynamik des Gesprächs. Sie werden von einer passiven Patientin zu einer informierten Partnerin auf Augenhöhe. Sie helfen Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt, über den Tellerrand der „Bikini-Medizin“ hinauszuschauen und ein vollständiges Bild Ihrer Gesundheit zu erhalten. Nur so kann eine wirklich personalisierte Präventionsstrategie entwickelt werden, die auf Ihrer einzigartigen biologischen Realität basiert und nicht auf einer veralteten, männlichen Norm.

Die Basis für jede Veränderung ist das Wissen um das eigene, individuelle Risikoprofil.

Sprechen Sie mit Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt über geschlechtersensible Kardiologie und fordern Sie eine Untersuchung, die Ihre einzigartige Biologie berücksichtigt. Es ist Ihr Herz. Es ist Ihr Leben.

Häufige Fragen zur Gendermedizin und individueller Biologie

Welche Alternativen zum Belastungs-EKG sind für Frauen besser geeignet?

Stressechokardiographie (Herzultraschall unter Belastung), Myokardszintigraphie oder ein Kardio-MRT liefern bei Frauen oft genauere und zuverlässigere Ergebnisse zur Beurteilung von Durchblutungsstörungen des Herzens als das klassische Belastungs-EKG.

Übernehmen die Krankenkassen die Kosten für alternative Untersuchungen?

Ja, wenn eine medizinische Notwendigkeit besteht und die Indikation korrekt gestellt wird, werden die Kosten für Verfahren wie die Stressechokardiographie sowohl von den gesetzlichen (GKV) als auch von den privaten (PKV) Krankenkassen in Deutschland übernommen.

Geschrieben von Dr. Julia Kramer, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie mit Fokus auf Psychokardiologie. Sie behandelt die Wechselwirkungen zwischen seelischem Stress, Depressionen und Herzerkrankungen.