Veröffentlicht am März 11, 2024

Entgegen der weitverbreiteten Angst, genetische Veranlagungen seien ein unabänderliches Urteil, ist Ihr genetisches Profil eher eine persönliche Landkarte als ein festgeschriebenes Schicksal. Dieses Wissen ermöglicht es Ihnen, Risiken nicht nur zu erkennen, sondern durch gezielte Prävention und angepasste Therapien Ihre Gesundheitszukunft aktiv zu gestalten. Anstatt in eine Schicksalsergebenheit zu verfallen, können Sie die Regie über Ihre Gesundheit übernehmen.

Ein Anruf, der alles ändert. Die Nachricht, dass ein Verwandter unerwartet am plötzlichen Herztod verstorben ist, weckt nicht nur Trauer, sondern auch eine nagende Angst: Könnte es auch mich treffen? In Familien, in denen Herzerkrankungen gehäuft auftreten, wird diese Frage schnell zu einer schweren Belastung. Oftmals folgen gut gemeinte, aber allgemeine Ratschläge wie „mehr Sport treiben“ oder „gesünder essen“. Diese sind zwar wichtig, greifen aber zu kurz, wenn die Wurzel des Problems tiefer liegt – in unserem Erbgut.

Die Vorstellung, dass unsere Gene über unser Leben und unsere Gesundheit entscheiden, ist tief in uns verankert und kann lähmend wirken. Doch was wäre, wenn die moderne Humangenetik uns eine völlig neue Perspektive bietet? Wenn die wahre Antwort nicht in blindem Aktionismus oder fatalistischer Resignation liegt, sondern im Verstehen der eigenen, einzigartigen Veranlagung? Die entscheidende Erkenntnis ist: Ihr genetisches Risiko ist kein Urteil, sondern eine personalisierte Landkarte. Sie zeigt mögliche Gefahrenpunkte, aber auch sichere Routen auf.

Dieser Artikel dient Ihnen als Kompass für diese Karte. Wir werden gemeinsam entschlüsseln, was ein familiäres Risiko wirklich bedeutet und wie die moderne Diagnostik funktioniert. Sie werden erfahren, wie Sie von einem passiven Betroffenen zu einem aktiven Gestalter Ihrer Gesundheit werden können, der im Dialog mit seinen Genen steht. Es geht darum, Wissen zu erlangen, um fundierte Entscheidungen zu treffen und die Kontrolle zurückzugewinnen. Denn das Wissen um die eigene Genetik ist das mächtigste Werkzeug der Prävention.

Für alle, die ein tieferes, wissenschaftliches Verständnis der genetischen Mechanismen bei Herzerkrankungen suchen, bietet das folgende Video einen Expertenvortrag. Es ist eine ausgezeichnete Ergänzung, um die komplexen Zusammenhänge visuell und akustisch zu erfassen.

Um Ihnen einen klaren Überblick zu verschaffen, beleuchtet dieser Leitfaden die entscheidenden Aspekte des erblichen Herzrisikos. Wir beginnen bei der modernen Diagnostik und enden bei den ethischen und rechtlichen Fragen, die Sie in Deutschland betreffen.

Nicht nur ein Gen: Wie die Summe vieler kleiner Varianten Ihr Risiko bestimmt

Das traditionelle Bild der Genetik – ein defektes Gen führt zu einer Krankheit – ist oft zu einfach. Besonders bei komplexen Leiden wie der koronaren Herzkrankheit (KHK) müssen wir uns das Erbgut eher wie eine komplexe „Risiko-Partitur“ vorstellen. Unzählige kleine genetische Variationen, sogenannte Single Nucleotide Polymorphisms (SNVs), spielen zusammen und können in ihrer Summe das individuelle Risiko erhöhen oder senken. Jede einzelne dieser Varianten hat nur einen minimalen Effekt, aber ihre Kombination kann entscheidend sein.

Um diese Komplexität zu fassen, hat die Forschung den Polygenic Risk Score (PRS) entwickelt. Dieser Wert bündelt die Effekte tausender krankheitsassoziierter SNVs zu einem einzigen, aussagekräftigen Score. Stellen Sie sich vor, jede Genvariante ist eine Note in Ihrer persönlichen Partitur. Der PRS bewertet, ob die Melodie harmonisch oder dissonant klingt – also ob Ihr Gesamtrisiko niedrig oder hoch ist. Das Medizinisch Genetische Zentrum München hat durch umfassende Studien gezeigt, dass der PRS ein wertvolles Werkzeug ist, um Personen mit einem erhöhten Risiko für Herzinfarkte frühzeitig zu identifizieren.

Diese Methode revolutioniert die Prävention. Während man früher oft erst nach einem Ereignis handelte, ermöglicht der PRS eine Vorausschau. Es ist wichtig zu wissen, dass laut Schätzungen etwa 10 % der Bevölkerung einen erhöhten PRS für koronare Herzerkrankungen aufweisen. Ein hoher PRS ist dabei kein unabwendbares Schicksal, sondern ein entscheidender Hinweis auf Ihrer genetischen Landkarte, der zu verstärkten Vorsorgemaßnahmen motivieren sollte. Er macht Ihr persönliches Risiko greifbar und erlaubt eine maßgeschneiderte Präventionsstrategie, lange bevor Symptome auftreten.

Ein hoher PRS bedeutet also nicht, dass eine Erkrankung unausweichlich ist, sondern dass präventive Maßnahmen eine besonders hohe Wirksamkeit entfalten können.

Tante krank, Neffe testen? Wie organisieren Sie die Untersuchung der ganzen Verwandtschaft?

Wenn in einer Familie eine erblich bedingte Herzerkrankung diagnostiziert wird, beginnt eine Kette von wichtigen Überlegungen. Die entscheidende Frage lautet: Wer sollte sich ebenfalls testen lassen? Hier kommt das Konzept des Kaskadenscreenings ins Spiel. Es ist ein strukturierter Prozess, um gefährdete Familienmitglieder systematisch zu identifizieren und ihnen eine Untersuchung anzubieten. Dies geschieht nicht willkürlich, sondern folgt einer klaren Logik, um Ressourcen gezielt einzusetzen und unnötige Beunruhigung zu vermeiden.

Ausgangspunkt ist immer der sogenannte Indexpatient – die erste Person in der Familie, bei der die genetische Ursache einer Erkrankung nachgewiesen wird. Sobald bei ihm eine krankheitsverursachende Genvariante gefunden wurde, beginnt die „Kaskade“: Man empfiehlt allen Verwandten ersten Grades (Eltern, Geschwister, Kinder) ebenfalls einen Gentest. Findet man die Variante bei einem dieser Verwandten, werden wiederum dessen erstgradige Verwandte zur Testung eingeladen. Dieser Prozess setzt sich fort, bis alle potenziell betroffenen Linien der Familie informiert und untersucht sind.

Die nachfolgende Illustration zeigt eine typische Beratungssituation, die den Kern des Kaskadenscreenings darstellt: Der offene und einfühlsame Dialog zwischen Arzt und Familie, um die nächsten Schritte gemeinsam zu planen.

Familie verschiedener Generationen in Beratungssituation mit Arzt in deutscher Klinik

Wie Sie sehen, ist der Prozess stark von Kommunikation und Vertrauen geprägt. Es geht darum, Informationen weiterzugeben, ohne Druck auszuüben. In Deutschland ist dieser Prozess klar geregelt und wird von den Krankenkassen oft unterstützt, wie das Beispiel der ARVC-Erkrankung zeigt. Eine professionelle genetische Beratung ist dabei unerlässlich, um die Ergebnisse richtig einzuordnen und die psychologische Belastung für die Familie zu minimieren. Sie stellt sicher, dass jeder Einzelne eine informierte und freie Entscheidung über die Testung treffen kann.

Ihr Plan zum Kaskadenscreening: Die wichtigsten Schritte in Deutschland

  1. Identifikation des Indexpatienten: Der Prozess beginnt mit der ersten Person in der Familie, bei der der Verdacht auf eine genetische Herzerkrankung durch einen Gentest bestätigt wird.
  2. Testung der Verwandten ersten Grades: Nach dem Fund einer relevanten Genvariante wird allen Eltern, Geschwistern und Kindern des Indexpatienten eine gezielte Testung auf genau diese Variante angeboten.
  3. Inanspruchnahme einer genetischen Beratung: Jede Untersuchung sollte von einer humangenetischen Beratung begleitet werden, um die Bedeutung, Chancen und Risiken des Tests zu verstehen.
  4. Durchführung in zertifizierten Laboren: Der Test muss in einem qualifizierten Speziallabor durchgeführt und von einem multidisziplinären Team bewertet werden, um die höchste diagnostische Sicherheit zu gewährleisten.
  5. Klärung der Kostenübernahme: Informieren Sie sich, ob die Kosten von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werden. Bei vielen Indikationen, wie der arrhythmogenen Kardiomyopathie (ARVC), ist dies in der Regel der Fall.

Durch diesen systematischen Ansatz wird aus einer beunruhigenden Diagnose eine Chance für die ganze Familie, präventiv zu handeln und die eigene Gesundheit zu schützen.

Der plötzliche Herztod beim Sportler: Welche Gene verdicken den Herzmuskel?

Es ist eine der tragischsten Nachrichten: Ein junger, scheinbar kerngesunder Sportler bricht während des Trainings zusammen und verstirbt. Hinter vielen dieser Fälle von plötzlichem Herztod verbirgt sich eine heimtückische Erkrankung: die hypertrophe Kardiomyopathie (HCM). Bei der HCM kommt es zu einer krankhaften Verdickung des Herzmuskels, meist ohne dass die Betroffenen etwas davon ahnen. Diese Verdickung kann zu schweren Herzrhythmusstörungen führen, die insbesondere unter körperlicher Belastung lebensbedrohlich werden können.

Die Ursache der HCM ist in den meisten Fällen genetisch. Bestimmte Mutationen in Genen, die für die Proteine des Herzmuskels (die sogenannten Sarkomere) kodieren, führen dazu, dass sich die Muskelzellen unkontrolliert vergrößern. Die Erkrankung ist dabei keine Seltenheit: Die Prävalenz der hypertrophen Kardiomyopathie wird von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie auf etwa 1:500 in der Bevölkerung geschätzt. Das bedeutet, dass statistisch gesehen einer von 500 Menschen diese potenziell gefährliche Veranlagung in sich trägt.

Die Genetik spielt hier eine so zentrale Rolle, dass Experten klare Worte finden. Wie Prof. Eric Schulze-Bahr, ein führender Kardiologe und Genetiker, betont, ist der Zusammenhang unbestreitbar:

Mindestens ein Drittel dieser plötzlichen Todesfälle haben nachweisbare, genetische Ursachen.

– Prof. Eric Schulze-Bahr, Deutsche Gesellschaft für Kardiologie

Diese Erkenntnis ist der Schlüssel zur Prävention. Wenn ein Fall von HCM oder ein plötzlicher Herztod in der Familie auftritt, ist ein Kaskadenscreening (wie im vorherigen Abschnitt beschrieben) von größter Bedeutung. Durch einen Gentest können Verwandte identifiziert werden, die die gleiche Mutation tragen, aber noch keine Symptome haben. Für sie können dann lebensrettende Maßnahmen ergriffen werden, wie die Vermeidung von Leistungssport, die Gabe von Medikamenten oder die Implantation eines Defibrillators.

Die genetische Diagnostik verwandelt hier ein unkalkulierbares Risiko in eine handhabbare medizinische Aufgabe und rettet potenziell Leben, bevor eine Tragödie geschieht.

Clopidogrel-Non-Responder: Warum wirken manche Blutverdünner bei Ihnen genetisch bedingt nicht?

Die Kenntnis der eigenen genetischen Landkarte ist nicht nur für die Diagnose von Krankheitsrisiken entscheidend, sondern auch für eine sichere und wirksame medikamentöse Behandlung. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Therapie mit Clopidogrel, einem weit verbreiteten Blutverdünner, der nach Herzinfarkten oder dem Einsetzen von Stents eingesetzt wird, um die Bildung von Blutgerinnseln zu verhindern. Doch dieses Medikament wirkt nicht bei jedem gleich gut – und der Grund dafür liegt in unseren Genen.

Clopidogrel ist ein sogenanntes Prodrug, das heißt, es muss im Körper erst durch ein Enzym in seine aktive Form umgewandelt werden. Dieses entscheidende Enzym ist CYP2C19. Aufgrund von genetischen Varianten gibt es jedoch Menschen, deren CYP2C19-Enzym langsamer oder gar nicht arbeitet. Man nennt sie „Intermediate Metabolizer“ oder „Poor Metabolizer“. Bei ihnen wird Clopidogrel nicht ausreichend aktiviert, was zu einem stark erhöhten Risiko für erneute Herzinfarkte oder Stent-Thrombosen führen kann. Schätzungen von Medicover Diagnostics zufolge gehören in Deutschland etwa 5 % zu den langsamen und 20 % zu den intermediären Metabolisierern.

Die abstrakte Darstellung unten visualisiert die komplexe Interaktion zwischen einem Enzym (die organische, korallenartige Struktur) und Medikamentenmolekülen (die Glaskugeln). Sie veranschaulicht, wie eine veränderte Enzymstruktur die „Andockfähigkeit“ und damit die Wirksamkeit eines Medikaments beeinträchtigen kann.

Makroaufnahme von Enzymstruktur und Medikamentenmolekülen

Glücklicherweise gibt es heute Alternativen. Ein einfacher Gentest kann den individuellen Metabolisierer-Typ bestimmen. Basierend auf dem Ergebnis kann der behandelnde Arzt eine fundierte Entscheidung treffen, wie die folgende Tabelle zeigt. Sie verdeutlicht, welche medikamentösen Alternativen in Deutschland für Patienten mit einer reduzierten CYP2C19-Funktion zur Verfügung stehen.

Alternative Medikamente bei CYP2C19-Varianten
Metabolisierer-Typ Standardmedikation Alternative in Deutschland
Poor Metabolizer Clopidogrel wenig wirksam Prasugrel, Ticagrelor
Intermediate Metabolizer Clopidogrel vermindert wirksam Dosisanpassung oder Prasugrel
Normal Metabolizer Clopidogrel normal wirksam Keine Änderung nötig

Dieses Beispiel aus der Pharmakogenetik zeigt eindrücklich, wie das Wissen um die eigene genetische Veranlagung direkt in eine sicherere und effektivere Therapie mündet und so Leben schützen kann.

Darf die Berufsunfähigkeitsversicherung Ihre Gene sehen? Die Rechtslage in Deutschland

Die Diagnose einer genetischen Veranlagung für eine Herzerkrankung wirft nicht nur medizinische, sondern auch sehr praktische, existenzielle Fragen auf. Eine der häufigsten Sorgen, die ich in der Beratung höre, lautet: „Darf meine Versicherung das wissen? Werde ich jetzt keine Berufsunfähigkeits- oder Lebensversicherung mehr bekommen?“ Diese Ängste sind verständlich, doch in Deutschland gibt es einen klaren rechtlichen Rahmen, der Sie schützt: das Gendiagnostikgesetz (GenDG).

Dieses Gesetz regelt den Umgang mit genetischen Untersuchungen und Daten und schafft eine wichtige Balance zwischen dem Informationsinteresse von Versicherungen und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen. Wie der Verein ARVC-Selbsthilfe e.V. festhält, ist diese Regelung die zentrale Säule für den Schutz der Patienten.

Gesetzliche Grundlage für eine genetische Untersuchung ist das am 1.2.2010 in Kraft getretene Gendiagnostikgesetz (GenDG).

– ARVC-Selbsthilfe e.V., Leitfaden zur genetischen Testung

Der entscheidende Paragraph für Versicherungsfragen ist § 18 GenDG. Er legt fest, dass Versicherungsunternehmen weder vor noch nach Abschluss eines Vertrages die Durchführung eines Gentests verlangen dürfen. Sie dürfen Sie auch nicht dazu drängen, bereits vorhandene Ergebnisse offenzulegen. Es gibt zwar bestimmte, sehr hohe Versicherungssummen, ab denen nach bereits vorliegenden Ergebnissen gefragt werden darf, doch für die meisten Standardverträge gilt ein klares Fragerechtverbot. Sie müssen also keine Angst haben, dass die proaktive Abklärung Ihres Risikos Sie automatisch von Versicherungsschutz ausschließt.

Dennoch ist das Thema komplex und erfordert sorgfältiges Vorgehen, insbesondere beim Abschluss neuer Verträge. Die richtige Strategie kann entscheidend sein, um Nachteile zu vermeiden.

Checkliste: Versicherungsanträge und genetische Daten in Deutschland

  1. Informieren Sie sich über Ihre Rechte: Sie haben ein Recht auf Nichtwissen und ein Recht auf eine humangenetische Beratung vor jedem Gentest. Nehmen Sie diese Rechte wahr.
  2. Keine Gentests für Versicherungen: Führen Sie niemals einen Gentest auf Verlangen einer Versicherung durch. Dies ist laut Gendiagnostikgesetz (§ 18 GenDG) unzulässig.
  3. Prüfen Sie die Fragestellungen genau: Bei Anträgen für Lebens- oder Berufsunfähigkeitsversicherungen unterhalb bestimmter Summengrenzen (z.B. ca. 300.000 €) ist die Frage nach bereits durchgeführten Gentests verboten. Antworten Sie nur auf das, was gefragt wird.
  4. Achten Sie auf Gesundheitsfragen: Versicherungen dürfen nach konkreten Diagnosen und Symptomen fragen. Wenn aufgrund eines Gentests bereits eine manifeste Krankheit (z.B. eine diagnostizierte Kardiomyopathie) festgestellt wurde, muss diese in der Regel angegeben werden. Ein reines Risikoergebnis ohne Krankheitswert jedoch nicht.
  5. Suchen Sie professionelle Beratung: Vor dem Abschluss eines neuen Versicherungsvertrags ist die Beratung durch eine Verbraucherzentrale oder einen auf Versicherungsrecht spezialisierten Anwalt dringend zu empfehlen, um Fallstricke zu vermeiden.

Das Wissen um die eigenen Rechte ist genauso wichtig wie das Wissen um die eigene Genetik. Es ermöglicht Ihnen, Ihre Gesundheit zu managen, ohne Ihre soziale und finanzielle Absicherung zu gefährden.

Erlerntes Risikoverhalten: Haben Sie die schlechten Gewohnheiten Ihrer Eltern geerbt?

Wenn Herzerkrankungen in der Familie gehäuft auftreten, denken wir sofort an die Gene. Doch wir erben von unseren Eltern mehr als nur unsere DNA: Wir erben auch Gewohnheiten, Verhaltensmuster und den Lebensstil. Die Frage „Habe ich das von dir geerbt?“ bezieht sich vielleicht nicht nur auf die Augenfarbe, sondern auch auf die Vorliebe für fettiges Essen, den Griff zur Zigarette oder den Mangel an Bewegung. Diese erlernten Risikofaktoren können das genetische Erbe massiv beeinflussen.

Die Wissenschaft geht heute davon aus, dass die Trennung von „Natur“ (Genetik) und „Umwelt“ (Lebensstil) nicht so scharf ist, wie man lange dachte. Beide Faktoren spielen in einem komplexen Wechselspiel zusammen. Forschungen zeigen, dass etwa 40 % des Risikos für Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch vererbbare genetische Faktoren bedingt sind. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass 60 % durch andere Faktoren beeinflussbar sind – allen voran durch den Lebensstil. Hier kommt die Epigenetik ins Spiel: Unser Verhalten kann sozusagen „genetische Schalter“ umlegen. Es kann die Aktivität von bestimmten Risiko- oder Schutzgenen verändern, ohne die DNA-Sequenz selbst zu modifizieren.

Fallbeispiel: Epigenetik und die Macht des Lebensstils

Stellen Sie sich zwei eineiige Zwillinge vor. Sie haben zu 100 % identische Gene und damit die exakt gleiche genetische Veranlagung für eine Herzerkrankung. Zwilling A pflegt einen aktiven Lebensstil, ernährt sich ausgewogen und raucht nicht. Zwilling B hingegen ist Raucher, übergewichtig und meidet sportliche Aktivitäten. Obwohl ihre genetische „Landkarte“ identisch ist, wird Zwilling B mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit viel früher und schwerer an einer Herzerkrankung leiden. Sein Lebensstil hat die epigenetischen Schalter seiner Risikogene „angeschaltet“, während der Lebensstil von Zwilling A sie „stumm“ gehalten hat.

Dies ist eine unglaublich ermächtigende Botschaft. Sie sind Ihren Genen nicht hilflos ausgeliefert. Selbst wenn Ihre genetische Landkarte einige Risikogebiete aufweist, haben Sie durch Ihre Lebensführung die Möglichkeit, diese Gebiete zu umschiffen. Eine gesunde Ernährung, regelmäßige Bewegung, Rauchverzicht und Stressmanagement sind keine bloßen Floskeln, sondern wirksame Werkzeuge der Epigenetik. Sie treten in einen aktiven Dialog mit Ihren Genen und übernehmen die „aktive Gesundheitsregie“. Die Familiengeschichte ist somit nicht nur eine Warnung, sondern auch ein Ansporn, die erlernten Muster kritisch zu hinterfragen und die negativen zu durchbrechen.

Sie können die Karten, die Ihnen genetisch ausgeteilt wurden, nicht ändern, aber Sie können entscheiden, wie Sie das Spiel spielen.

Dürfen wir zukünftige Generationen verändern? Die rote Linie in Deutschland

Die Fortschritte in der Genetik werfen tiefgreifende ethische Fragen auf. Wenn wir eine krankheitsverursachende Genmutation in der Familie identifizieren können, liegt der Gedanke nahe: Können wir nicht verhindern, dass diese überhaupt an die nächste Generation weitergegeben wird? Diese Frage führt uns an die Grenze dessen, was technologisch möglich und was gesellschaftlich und rechtlich erlaubt ist. In Deutschland ist diese Grenze durch das Embryonenschutzgesetz und strenge Regelungen zur Präimplantationsdiagnostik (PID) klar definiert.

Die Dringlichkeit dieser Frage wird deutlich, wenn man sich die Vererbungswahrscheinlichkeit ansieht. Wie das Universitätsklinikum Würzburg erklärt, ist das Risiko oft erheblich: „Hat jemand die genetische Veranlagung geerbt, liegt die Wahrscheinlichkeit, diese weiterzuvererben, oft bei bis zu 50 Prozent.“ Bei schweren, dominant vererbten Herzerkrankungen bedeutet dies, dass statistisch jedes zweite Kind betroffen sein könnte. Die PID bietet hier einen Weg: Im Rahmen einer künstlichen Befruchtung werden die Embryonen vor dem Einsetzen in die Gebärmutter auf die spezifische Genmutation untersucht. Nur Embryonen ohne die krankheitsverursachende Variante werden für den Transfer ausgewählt.

Die strenge Regelung der PID in Deutschland

Ein Paar weiß, dass die Frau Trägerin einer Mutation für eine schwere Form der hypertrophen Kardiomyopathie ist, an der bereits ihr Vater jung verstorben ist. Die Wahrscheinlichkeit, die Mutation an ihre Kinder weiterzugeben, liegt bei 50 %. Das Paar entscheidet sich für eine künstliche Befruchtung mit PID. In Deutschland ist dies kein einfacher Prozess. Der Antrag muss von einer unabhängigen Ethikkommission geprüft und genehmigt werden. Die Genehmigung wird nur erteilt, weil es sich um eine schwere Erbkrankheit mit hoher Krankheitslast handelt. Nach der Genehmigung werden mehrere Embryonen erzeugt und getestet. Ein Embryo ohne die Mutation wird ausgewählt und der Frau eingesetzt. Das Ergebnis ist ein Kind, das die schwere genetische Bürde der Familie nicht mehr in sich trägt.

Dieser Prozess ist in Deutschland bewusst eine Ausnahme und keine Routine. Die rote Linie ist klar gezogen: Es geht ausschließlich um die Vermeidung schwerer Krankheiten. Eingriffe, die auf die „Verbesserung“ von Eigenschaften abzielen (sogenanntes „Enhancement“) oder gar die Keimbahn – also das Erbgut, das an alle folgenden Generationen weitergegeben wird – dauerhaft verändern, sind strikt verboten. Die deutsche Gesetzgebung betont die Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen und den Respekt vor der menschlichen Würde, die nicht auf eine Summe genetischer Merkmale reduziert werden darf.

Die Diskussion zeigt, dass die Genetik nicht nur eine medizinische, sondern auch eine zutiefst menschliche und gesellschaftliche Disziplin ist, die einen verantwortungsvollen Umgang erfordert.

Das Wichtigste in Kürze

  • Ihr genetisches Risiko ist keine Enddiagnose, sondern ein Hinweis auf Ihrer persönlichen Gesundheits-Landkarte, der proaktives Handeln ermöglicht.
  • Moderne Tests wie der Polygenic Risk Score (PRS) erfassen die Summe vieler kleiner Genvarianten und ermöglichen eine präzisere Risikobewertung als die Betrachtung einzelner Gene.
  • Das Gendiagnostikgesetz (GenDG) schützt Sie in Deutschland davor, von Versicherungen zu Gentests gedrängt oder aufgrund von Risikobefunden benachteiligt zu werden.

Schlank, sportlich, aber Cholesterin von 300: Haben Sie einen Gendefekt?

Es ist ein klassisches Paradoxon, das viele Menschen und sogar Ärzte ratlos macht: Ein Patient ist schlank, treibt regelmäßig Sport, ernährt sich gesund – und hat trotzdem extrem hohe Cholesterinwerte. Oft wird dann fälschlicherweise am Lebensstil gezweifelt, dabei liegt die Ursache in vielen Fällen in den Genen. Die Diagnose lautet dann familiäre Hypercholesterinämie (FH). Es handelt sich um eine der häufigsten monogenetischen, also durch ein einzelnes Gen verursachten, Stoffwechselerkrankungen.

Bei der FH ist die Fähigkeit des Körpers, LDL-Cholesterin (das „schlechte“ Cholesterin) aus dem Blut zu entfernen, von Geburt an stark eingeschränkt. Dies führt zu einer massiven Anreicherung von Cholesterin in den Blutgefäßen und einem drastisch erhöhten Risiko für frühe Herzinfarkte. Die Erkrankung ist weitaus häufiger als oft angenommen; Studien zeigen eine globale Prävalenz der familiären Hypercholesterinämie von etwa 1:311. Viele Betroffene wissen jedoch nichts von ihrer genetischen Zeitbombe. Ein starker klinischer Verdacht besteht, wenn die LDL-Werte bestimmte Grenzen überschreiten, wie in der folgenden Tabelle nach den Dutch Lipid Clinic Network-Kriterien (DLCN) dargestellt.

Dutch Lipid Clinic Network-Kriterien (DLCN-Score)
LDL-Cholesterin Verdacht auf FH Altersgruppe
> 190 mg/dl (4,9 mmol/l) Starker Verdacht bei Erwachsenen Ab 16 Jahre
> 155 mg/dl (4,0 mmol/l) Starker Verdacht bei Kindern Unter 16 Jahre

Obwohl klinische Kriterien und die Familienanamnese wichtige Hinweise geben, liefert nur der Gentest die endgültige Sicherheit. Er kann die spezifische Mutation in einem der drei Hauptgene (LDLR, APOB, PCSK9) nachweisen. Wie der Laborverbund LADR betont, hat dieser Nachweis eine höhere Spezifität als jede klinische Diagnostik. Für Betroffene ist diese klare Diagnose eine enorme Erleichterung. Sie beendet die oft jahrelange Suche nach Erklärungen und die Selbstzweifel bezüglich des eigenen Lebensstils. Vor allem aber ebnet sie den Weg für eine frühzeitige und aggressive medikamentöse Therapie (meist mit Statinen), die das Herzinfarktrisiko wieder auf das Niveau der Normalbevölkerung senken kann.

Der erste Schritt ist immer das Gespräch. Sprechen Sie mit Ihrer Familie und Ihrem Arzt, um Ihre persönliche genetische Landkarte zu verstehen und die Weichen für eine gesunde Zukunft zu stellen. Eine frühzeitige Diagnose und Behandlung sind der Schlüssel, um das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Geschrieben von Dr. Thomas Hartmann, Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie mit über 20 Jahren Erfahrung in klinischer Diagnostik und interventioneller Therapie. Als Oberarzt an einem großen Herzzentrum ist er spezialisiert auf Herzinsuffizienz, Bluthochdruckmanagement und moderne bildgebende Verfahren.