
Entgegen der Annahme, dass jede neue Studie sofort die Therapie ändert, liegt der Schlüssel zur besten Behandlung im Verständnis des deutschen Gesundheitssystems.
- Medizinischer Fortschritt folgt klaren Regeln: Von der Studie über die Zulassung bis zur Aufnahme in die Leitlinien der Fachgesellschaften (z.B. DGK) vergehen oft Jahre.
- Ihre Rolle als Patient ist entscheidend: Mit dem Wissen um seriöse Quellen (z.B. Deutsche Herzstiftung, IQWiG) werden Sie zum kompetenten Partner im Arztgespräch.
Empfehlung: Nutzen Sie die hier vorgestellten Strategien, um Ihr nächstes Gespräch mit Ihrem Kardiologen vorzubereiten und gezielt nach der Aktualität und den Optionen Ihrer Therapie zu fragen.
Als Herzpatient unter langjähriger Therapie fragen Sie sich vielleicht: Ist das Medikament, das ich seit Jahren nehme, wirklich noch die beste Option für mich? In den Medien lesen Sie von „sensationellen Durchbrüchen“ und „neuen Wundermitteln“. Diese Flut an Informationen kann verunsichern und den Eindruck erwecken, die medizinische Welt würde sich täglich komplett neu erfinden. Die Realität in der kardiologischen Praxis in Deutschland ist jedoch strukturierter und folgt einem evidenzbasierten Pfad.
Viele Ratgeber sagen schlicht: „Sprechen Sie mit Ihrem Arzt.“ Das ist zwar richtig, aber nicht ausreichend. Ohne das nötige Hintergrundwissen bleibt dieses Gespräch oft oberflächlich. Die wahre Kompetenz liegt nicht darin, jede neue Studie zu kennen, sondern zu verstehen, *wie* eine wissenschaftliche Erkenntnis den Weg in Ihre Apotheke findet. Es geht um die Mechanismen hinter den Kulissen: die Rolle der europäischen (ESC) und deutschen (DGK) Leitlinien, die Hürden des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) und die entscheidende Frage, wann eine neue Option für Sie persönlich relevant wird.
Dieser Artikel verfolgt daher einen anderen Ansatz. Statt Ihnen nur die neuesten Schlagzeilen zu präsentieren, möchte ich Sie als Ihr Kardiologe befähigen. Ich erkläre Ihnen die Leitlinien-Dynamik und den Prozess des Evidenz-Transfers im deutschen System. Ziel ist es, Ihre Patienten-Kompetenz zu stärken, damit Sie nicht nur informierter, sondern auch ein selbstbewussterer und kritischerer Partner im Dialog über Ihre Herzgesundheit werden. Wir werden gemeinsam den Weg von der Forschung in die Praxis nachzeichnen, damit Sie fundiert beurteilen können, ob Ihre Therapie wirklich ein Update benötigt.
Um Ihnen eine klare Orientierung zu geben, gliedert sich dieser Artikel in mehrere Abschnitte. Wir beginnen mit den Gründen für Therapieänderungen und geben Ihnen dann Werkzeuge an die Hand, um Studien kritisch zu bewerten und das Gespräch mit Ihrem Arzt vorzubereiten.
Sommaire: Der Weg von der Herz-Studie zur optimierten Behandlung
- Warum wird Ihnen heute ein anderes Herzmedikament empfohlen als vor 5 Jahren?
- Wie Sie neue Herz-Studien in den Medien kritisch interpretieren
- ESC-Leitlinien 2023 vs. 2018: Was hat sich für Herzpatienten geändert?
- Wie Sie Ihren Kardiologen auf neue Behandlungsoptionen ansprechen
- Wann sollten Sie an einer Herz-Studie teilnehmen, um früh neue Therapien zu erhalten?
- ESC-Kongress: Wie Sie Late-Breaking Trials richtig einordnen
- Warum verlieren Herzmedikamente mit der Zeit ihre Wirkung?
- Herz-Forschung 2024: Welche neuen Erkenntnisse ändern Ihre Behandlung wirklich?
Warum wird Ihnen heute ein anderes Herzmedikament empfohlen als vor 5 Jahren?
Die Empfehlung eines neuen Medikaments ist kein Zeichen dafür, dass Ihre bisherige Therapie „schlecht“ war. Sie ist vielmehr ein Beleg für den stetigen Fortschritt in der Kardiologie. Die Wissenschaft steht nie still, und was vor fünf Jahren der Goldstandard war, kann heute durch eine wirksamere oder besser verträgliche Alternative ergänzt oder ersetzt werden. Dieser Prozess, den wir Leitlinien-Dynamik nennen, wird durch Tausende von Studien und neue Erkenntnisse angetrieben. Allein im Jahr 2024 wurden in Deutschland 43 Medikamente mit neuen Wirkstoffen eingeführt, einige davon auch für die Kardiologie.
Ein Paradigmenwechsel geschieht jedoch nicht über Nacht. Der Weg von einer vielversprechenden Studie bis zur routinemäßigen Verschreibung ist lang und streng reguliert, um maximale Patientensicherheit zu gewährleisten. Wir sprechen hier vom sogenannten Evidenz-Transfer. Eine große, aussagekräftige Phase-III-Studie muss zunächst die europäische Arzneimittelagentur (EMA) überzeugen. Nach der Zulassung prüft in Deutschland der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), ob das Medikament einen echten Zusatznutzen gegenüber bestehenden Therapien bietet. Erst dann wird es von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet und findet Eingang in die nationalen Behandlungsleitlinien.

Wie dieser Prozess in der Praxis aussieht, zeigt das Beispiel der SGLT-2-Hemmer. Diese Medikamentenklasse, ursprünglich für Diabetes entwickelt, zeigte in großen Studien einen enormen Nutzen bei Herzinsuffizienz. Trotzdem hat es seine Zeit gedauert.
Fallbeispiel: Von der Studie zur Kassenleistung – SGLT-2-Hemmer
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) erkannte erst 2021 einen beträchtlichen Zusatznutzen von Dapagliflozin bei chronischer Herzinsuffizienz an. Dies ist ein typisches Beispiel für den Weg von der ersten großen Studie über die EMA-Zulassung bis zur deutschen Kassenerstattung, der oft drei bis fünf Jahre dauert. In dieser Zeit müssen Ärzte und Patienten manchmal warten, obwohl der Nutzen bereits wissenschaftlich belegt ist.
Ihre Therapie wird also nicht willkürlich geändert, sondern auf Basis eines soliden, wenn auch manchmal langsamen, wissenschaftlichen und regulatorischen Prozesses. Die Umstellung reflektiert den aktuellen Stand der Evidenz, der sich über Jahre entwickelt hat.
Wie Sie neue Herz-Studien in den Medien kritisch interpretieren
Medienberichte über neue Studien sind oft aufmerksamkeitsstark formuliert. Schlagzeilen wie „Durchbruch in der Herzforschung“ erzeugen Hoffnung, können aber auch zu falschen Erwartungen führen. Um diese Informationen richtig einzuordnen, benötigen Sie eine Fähigkeit zur kritischen Interpretation. Nicht jede Studie, die in den Nachrichten erscheint, ist für Ihre persönliche Behandlung sofort relevant. Oft handelt es sich um frühe Forschungsphasen oder sehr spezifische Patientengruppen.
Ein häufiges Missverständnis entsteht durch die Darstellung von Risikoreduktionen. Eine „50%ige Reduktion des Risikos“ klingt beeindruckend. Man muss aber genau hinschauen: Handelt es sich um eine relative oder absolute Reduktion? Wenn das ursprüngliche Risiko nur bei 4 von 100 Patienten lag (4 %), reduziert eine 50%ige Senkung dieses Risiko auf 2 von 100 Patienten (2 %). Die absolute Risikoreduktion beträgt also nur 2 Prozentpunkte. Das ist immer noch ein Erfolg, aber es rückt die reißerische Schlagzeile in eine realistischere Perspektive.
Ebenso wichtig ist die Quelle der Information. Nicht alle Gesundheitsportale sind gleich vertrauenswürdig. In Deutschland gibt es verlässliche Anlaufstellen, die Informationen evidenzbasiert und für Laien verständlich aufbereiten. Dazu gehören insbesondere die Deutsche Herzstiftung, das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und Publikationen für Ärzte wie das Deutsche Ärzteblatt, die oft auch für Patienten zugängliche Zusammenfassungen anbieten. Die folgende Checkliste hilft Ihnen, die Qualität von Gesundheitsinformationen zu bewerten.
Ihre Checkliste: Seriöse Herz-Informationen in Deutschland erkennen
- Prüfen Sie die Quelle: Vertrauen Sie Veröffentlichungen der Deutschen Herzstiftung, des IQWiG und des Deutschen Ärzteblatts.
- Achten Sie auf die Studienphase: Ergebnisse aus großen Phase-III-Studien sind aussagekräftiger und praxisnäher als die aus frühen Forschungsphasen.
- Hinterfragen Sie relative Risiken: Eine „50%ige Risikoreduktion“ kann absolut nur eine geringe Verbesserung bedeuten. Fragen Sie nach den absoluten Zahlen.
- Prüfen Sie die Finanzierung: Industriestudien sind normal und wichtig, unterliegen in Deutschland aber der strengen Kontrolle durch EMA und G-BA.
- Warten Sie auf deutsche Leitlinien: Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) adaptiert internationale Empfehlungen für das deutsche Gesundheitssystem – das ist entscheidend.
Indem Sie lernen, Informationen kritisch zu filtern, schützen Sie sich vor Enttäuschungen und werden zu einem informierteren Gesprächspartner für Ihren behandelnden Arzt. Es geht nicht darum, medizinischer Experte zu werden, sondern die Prinzipien guter Wissenschaft zu verstehen.
ESC-Leitlinien 2023 vs. 2018: Was hat sich für Herzpatienten geändert?
Die wichtigste Kraft, die Therapieentscheidungen in der Kardiologie lenkt, sind die Behandlungsleitlinien. Diese Dokumente sind keine starren Gesetze, sondern evidenzbasierte Empfehlungen, die von großen Fachgesellschaften herausgegeben werden. Für uns in Europa ist die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) maßgebend. Alle paar Jahre werden diese Leitlinien für verschiedene Herzerkrankungen aktualisiert, um neue Studienergebnisse zu berücksichtigen. Dieser Prozess ist zentral für die Leitlinien-Dynamik und erklärt, warum sich Behandlungen ändern.
Ein Blick auf die Entwicklung der Leitlinien zur Herzinsuffizienz verdeutlicht dies. Allein in Deutschland gab es im Jahr 2022 446.814 vollstationäre Krankenhausfälle wegen Herzinsuffizienz – eine gewaltige Zahl, die die Dringlichkeit optimaler Therapien unterstreicht. Die ESC-Leitlinien von 2023 sehen im Vergleich zur Version von 2018 fundamental anders aus. Früher basierte die Therapie auf drei Säulen (ACE-Hemmer/ARNI, Betablocker, MRA). Heute sprechen wir von einer Vierfach-Therapie als neuem Goldstandard, ergänzt durch die bereits erwähnten SGLT-2-Hemmer. Diese sollten nun von Anfang an für alle geeigneten Patienten mit Herzschwäche und reduzierter Pumpfunktion eingesetzt werden.

Was bedeutet das konkret für Sie als Patient in Deutschland? Die ESC-Leitlinien werden nicht eins zu eins übernommen. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) „übersetzt“ diese Empfehlungen in den deutschen Kontext. Sie prüft, ob die Medikamente hier zugelassen und erstattungsfähig sind und wie sie am besten in das bestehende Versorgungssystem integriert werden können. Es gibt also eine kleine, aber wichtige Verzögerung und Anpassung. Wenn Ihr Arzt also eine Therapieumstellung vorschlägt, orientiert er sich höchstwahrscheinlich an diesen neuen, für Deutschland adaptierten Empfehlungen.
Der Wandel von 2018 zu 2023 zeigt: Eine Therapieanpassung ist oft keine kleine Korrektur, sondern ein fundamentaler Strategiewechsel, der auf jahrelanger Forschung und erdrückender Beweislast beruht. Es ist der Versuch, die Prognose für Millionen von Patienten zu verbessern.
Wie Sie Ihren Kardiologen auf neue Behandlungsoptionen ansprechen
Der Schlüssel zu einer optimalen Therapie liegt im Dialog. Ein gut vorbereitetes Gespräch mit Ihrem Kardiologen ist dabei entscheidend, um Ihre Patienten-Kompetenz wirksam einzusetzen. Statt nur zu fragen „Gibt es etwas Neues?“, können Sie die Diskussion auf eine viel konstruktivere Ebene heben. Gehen Sie nicht mit vagen Vermutungen, sondern mit konkreten, seriösen Informationen ins Gespräch. Eine gute Strategie ist die „Drei-Quellen-Methode“: Bringen Sie nicht nur einen Medienartikel, sondern idealerweise die Zusammenfassung der Originalstudie und, wenn möglich, eine Einordnung durch eine deutsche Fachgesellschaft wie die DGK oder die Herzstiftung mit.
Formulieren Sie Ihre Fragen offen und kooperativ. Statt „Ich will Medikament X“ ist es besser zu fragen: „Ich habe über die SELECT-Studie gelesen und frage mich, ob ein Medikament wie Semaglutid auch für mich eine Option sein könnte. Was denken Sie?“. Diese Formulierung signalisiert Partnerschaft und Respekt vor der Expertise Ihres Arztes. Fragen Sie auch gezielt nach den Gründen, warum eine Therapie für Sie vielleicht nicht infrage kommt (z.B. wegen Wechselwirkungen, Begleiterkrankungen oder weil Ihre spezifische Indikation nicht von der Studie abgedeckt war). Manchmal ist auch ein sogenannter Off-Label-Use (eine Anwendung außerhalb der offiziellen Zulassung) denkbar, was jedoch Fragen zur Kostenübernahme durch die Krankenkasse aufwirft.
Sollten Sie das Gefühl haben, Ihre Bedenken werden nicht ernst genommen, oder wenn eine große Entscheidung wie ein Herzkatheter-Eingriff ansteht, scheuen Sie sich nicht, von Ihrem Recht Gebrauch zu machen. Wie die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie betont, ist dies ein wichtiger Teil der Patientensouveränität:
Das Recht auf eine Zweitmeinung ist gesetzlich verankert und kann besonders vor kardiologischen Eingriffen wie Herzkatheter oder Stent-Implantation wichtig sein.
– Deutsche Gesellschaft für Kardiologie, DGK-Patienteninformation
Ein gut informierter Patient, der konstruktive Fragen stellt, ist für jeden Arzt ein Gewinn. Es zeigt Ihr Engagement für Ihre eigene Gesundheit und ermöglicht eine Behandlungsentscheidung auf Augenhöhe, die auf Vertrauen und gemeinsamer Evidenz basiert.
Wann sollten Sie an einer Herz-Studie teilnehmen, um früh neue Therapien zu erhalten?
Für manche Patienten, insbesondere wenn Standardtherapien ausgeschöpft sind oder nicht vertragen werden, kann die Teilnahme an einer klinischen Studie eine wertvolle Option sein. Sie erhalten dadurch potenziell Zugang zu den neuesten Behandlungsansätzen, Jahre bevor diese auf den Markt kommen. Gleichzeitig leisten Sie einen unschätzbaren Beitrag zur medizinischen Forschung, der zukünftigen Patientengenerationen zugutekommt. Deutschland ist ein weltweit führender Standort für klinische Forschung mit exzellenten Studienzentren und hohen Sicherheitsstandards.
Die Teilnahme an einer Studie ist jedoch eine wichtige persönliche Entscheidung, die gut überlegt sein will. Es gibt immer ein gewisses Risiko, da die Langzeitwirkungen des neuen Medikaments noch nicht vollständig bekannt sind. Zudem besteht die Möglichkeit, dass Sie in die Kontrollgruppe gelost werden und ein Placebo oder die bisherige Standardtherapie erhalten. Die engmaschige medizinische Betreuung während einer Studie ist jedoch für viele Teilnehmer ein großer Vorteil. In Deutschland ist die Sicherheit der Teilnehmer durch strenge Auflagen von Ethikkommissionen und eine gesetzlich vorgeschriebene Probandenversicherung gewährleistet.
Ein hervorragendes Beispiel für eine große, patientenrelevante Studie in Deutschland ist die DIGIT-HF-Studie, die eine altbekannte Substanz in einem neuen Licht untersucht.
Fallbeispiel: Die DIGIT-HF-Studie der MHH
Unter Leitung von Prof. Bauersachs und Prof. Bavendiek an der Medizinischen Hochschule Hannover untersucht die DIGIT-HF-Studie mit über 40 teilnehmenden Kliniken deutschlandweit, ob der Wirkstoff Digitalis die Rate an Krankenhausaufenthalten senken und das Leben von Patienten mit Herzinsuffizienz verlängern kann. Dieses vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit 3,2 Millionen Euro geförderte Projekt zeigt, wie auch etablierte Medikamente neu bewertet werden, um die Versorgung zu verbessern.
Wenn Sie eine Studienteilnahme in Erwägung ziehen, ist Ihr Kardiologe der erste Ansprechpartner. Er kann beurteilen, ob Sie für laufende Studien geeignet sind. Zusätzlich können Sie sich im Deutschen Register Klinischer Studien (DRKS) selbst über Forschungsprojekte in Ihrer Nähe informieren. Die Entscheidung für oder gegen eine Teilnahme ist immer individuell, aber sie ist eine Möglichkeit, aktiv an der Zukunft der Herzmedizin mitzuwirken.
ESC-Kongress: Wie Sie Late-Breaking Trials richtig einordnen
Zweimal im Jahr blickt die kardiologische Welt gespannt auf die großen Kongresse der ESC in Europa und der American Heart Association (AHA) in den USA. Die Höhepunkte sind die „Late-Breaking Clinical Trials“ – Studien, deren Ergebnisse so neu und potenziell bedeutsam sind, dass sie erst kurz vor dem Kongress zur Präsentation angenommen werden. Hier werden oft die Daten vorgestellt, die die Leitlinien der Zukunft prägen werden. Allein beim AHA-Kongress 2024 gab es 29 Late-Breaking-Studien in 8 Sessions.
Für Patienten ist es wichtig, den Hype um diese Präsentationen richtig einzuordnen. Eine „sensationelle“ Studie auf einem Kongress bedeutet nicht, dass sich Ihre Behandlung morgen ändert. Es ist der allererste Schritt der öffentlichen wissenschaftlichen Diskussion. Nach der Präsentation folgt die Publikation in einem Fachjournal, wo andere Experten die Daten im Detail prüfen können (Peer-Review). Erst dann beginnt der langwierige Prozess der Zulassung und Leitlinien-Adaption, wie wir ihn bereits besprochen haben. Die anfängliche Euphorie muss sich im Praxisalltag erst noch beweisen.
Diese kritische Distanz wird auch von erfahrenen Medizinjournalisten und Ärzten immer wieder angemahnt. Es gilt, die erste Begeisterung mit einer gesunden Portion Skepsis zu betrachten, wie Dr. Heidi Schörken, eine erfahrene Kongressberichterstatterin, treffend zusammenfasst.
Eine als ’sensationell‘ vorgestellte Late-Breaking-Studie braucht oft Jahre, um die Praxis zu erreichen – wenn überhaupt.
– Dr. Heidi Schörken, Herzmedizin.de Kongressbericht
Beobachten Sie die Berichterstattung über diese Kongresse also mit Interesse, aber mit Geduld. Sehen Sie sie als einen Blick in die Zukunft der Kardiologie, nicht als Handlungsanweisung für die Gegenwart. Die wirklich praxisverändernden Ergebnisse werden sich über die Zeit durchsetzen und über Ihren Kardiologen und die aktualisierten Leitlinien zu Ihnen gelangen.
Warum verlieren Herzmedikamente mit der Zeit ihre Wirkung?
Einige Patienten berichten, dass ein Medikament, das anfangs gut geholfen hat, mit der Zeit an Wirkung zu verlieren scheint. Dies ist eine ernste Sorge, die verschiedene Ursachen haben kann. Selten liegt es am Medikament selbst, das „schwächer“ wird. Viel häufiger sind es Veränderungen im Körper des Patienten oder in seinem Umfeld. Eine der Hauptursachen ist die Progression der Grunderkrankung. Eine Herzinsuffizienz oder eine koronare Herzkrankheit kann sich über die Jahre verschlechtern, sodass die bisherige Dosis des Medikaments nicht mehr ausreicht, um die Symptome zu kontrollieren. Dies ist ein Alarmsignal, das unbedingt mit dem Kardiologen besprochen werden muss, um die Therapie anzupassen.
Eine weitere, oft unterschätzte Ursache sind Wechselwirkungen mit anderen Substanzen. Das können andere verschreibungspflichtige Medikamente sein, aber auch frei verkäufliche Mittel. Besonders Schmerzmittel aus der Gruppe der NSAR (wie Ibuprofen oder Diclofenac) können die Wirkung von Blutdrucksenkern und Entwässerungsmedikamenten abschwächen und die Nieren belasten. Auch pflanzliche Präparate oder Nahrungsergänzungsmittel können unerwartete Interaktionen hervorrufen. Deshalb ist es so wichtig, dass Ihr Arzt und Ihre Apotheke über *alle* Mittel informiert sind, die Sie einnehmen.
Schließlich gibt es das Phänomen der Therapie-Inertie, also das Festhalten an einer einmal etablierten Behandlung, obwohl es mittlerweile bessere Optionen gäbe. Manchmal ist es aber auch eine nachlassende Therapietreue (Adhärenz) des Patienten, der seine Medikamente unregelmäßig einnimmt. Der Anstieg der Mortalität, wie ihn der aktuelle Deutsche Herzbericht zeigt, ist ein ernstes Warnsignal. Im Jahr 2022 starben in Deutschland 216.944 Menschen an Herzkrankheiten, ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Dies unterstreicht, wie wichtig eine konsequente und stets optimierte Therapie ist.
Wenn Sie eine nachlassende Wirkung vermuten, führen Sie ein Symptom-Tagebuch und besprechen Sie Ihre Beobachtungen umgehend mit Ihrem Arzt. Ein proaktiver Wechselwirkungs-Check in Ihrer Stammapotheke kann ebenfalls helfen, mögliche Ursachen aufzudecken.
Das Wichtigste in Kürze
- Der Weg von einer Studie zur Standardtherapie in Deutschland ist ein regulierter Prozess (G-BA, DGK), der mehrere Jahre dauern kann.
- Ihre Kompetenz als Patient wächst, wenn Sie lernen, Medienberichte kritisch zu hinterfragen und sich auf seriöse Quellen wie die Deutsche Herzstiftung zu verlassen.
- Ein partnerschaftliches Gespräch mit Ihrem Kardiologen, gut vorbereitet mit konkreten Fragen, ist der effektivste Weg, um Ihre Therapie auf dem neuesten Stand zu halten.
Herz-Forschung 2024: Welche neuen Erkenntnisse ändern Ihre Behandlung wirklich?
Nachdem wir den langen Weg von der Forschung in die Praxis beleuchtet haben, stellt sich die entscheidende Frage: Welche aktuellen Erkenntnisse haben das Potenzial, die Behandlung in den kommenden Jahren wirklich zu verändern? Die Forschung konzentriert sich zunehmend auf personalisierte Ansätze und die Behandlung von Begleiterkrankungen, die das Herz belasten. Ein herausragendes Beispiel, das auf dem AHA-Kongress für Furore sorgte, ist die SELECT-Studie.
Diese Studie hat eindrucksvoll gezeigt, dass die Behandlung von Adipositas (starkem Übergewicht) mit dem Wirkstoff Semaglutid bei Herzpatienten ohne Diabetes das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall und kardiovaskulären Tod signifikant senkt. Dies ist ein Meilenstein, weil er beweist, dass die konsequente Behandlung eines Risikofaktors die Herzprognose direkt verbessert. Es ist ein Paradebeispiel für eine Studie, die mit großer Wahrscheinlichkeit die Leitlinien der Zukunft prägen wird.
Durchbruch-Studie: Semaglutid bei Adipositas (SELECT-Studie)
Die SELECT-Studie mit über 17.500 Patienten zeigte: Der Wirkstoff Semaglutid reduzierte bei adipösen Patienten ohne Diabetes den kombinierten Endpunkt aus kardiovaskulärem Tod, Herzinfarkt und Schlaganfall um 20 % und die Gesamtmortalität um 19 %. Dieses Ergebnis, das beim AHA-Kongress mit spontanem Applaus gefeiert wurde, markiert einen Paradigmenwechsel in der Behandlung von Herzpatienten mit Übergewicht.
Neben neuen Medikamenten spielen auch digitale Innovationen eine immer größere Rolle. Das Deutsche Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK), in dem 28 Mitgliedseinrichtungen an 7 Standorten in Deutschland forschen, treibt die Entwicklung von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) oder „Apps auf Rezept“ voran. Diese können helfen, die Therapietreue zu verbessern, Vitalwerte zu überwachen und den Lebensstil anzupassen. Die Zukunft der Kardiologie liegt in der Kombination aus schlagkräftigen Medikamenten, intelligenten digitalen Helfern und einem gut informierten, kompetenten Patienten.
Ihre Behandlung wird sich also weiterentwickeln. Bleiben Sie neugierig, aber auch kritisch. Der wichtigste Faktor für Ihre Herzgesundheit sind nicht die Schlagzeilen, sondern die konsequente Umsetzung der mit Ihrem Arzt besprochenen, evidenzbasierten Therapie.
Nutzen Sie Ihr neu erworbenes Wissen bei Ihrem nächsten Arzttermin. Bereiten Sie Ihre Fragen vor, sprechen Sie Ihre Beobachtungen an und gestalten Sie so aktiv die für Sie beste Herztherapie mit. Ihre Gesundheit ist eine Teamleistung.
Häufige Fragen zu neuen Herz-Studien und Therapien
Wie finde ich passende Studien in Deutschland?
Nutzen Sie das Deutsche Register Klinischer Studien (DRKS) oder fragen Sie direkt bei deutschen Herzzentren und Universitätskliniken nach. Ihr Kardiologe ist ebenfalls eine wichtige Anlaufstelle, um geeignete Forschungsprojekte zu identifizieren.
Was ist der Unterschied zwischen Phase II und Phase III?
Phase-II-Studien testen an einer kleineren Patientengruppe, ob ein Wirkstoff überhaupt wie erhofft wirkt und welche Dosis die richtige ist. Das Risiko ist hier noch höher. Phase-III-Studien sind große, zulassungsrelevante Studien mit Tausenden von Patienten, die die Wirksamkeit und Sicherheit im Vergleich zum bisherigen Standard beweisen müssen, bevor eine Zulassung beantragt werden kann.
Bin ich als Studienteilnehmer geschützt?
Ja, das deutsche System bietet hohe Sicherheitsstandards. Jede klinische Studie muss von einer unabhängigen Ethikkommission genehmigt werden. Diese prüft, ob der potenzielle Nutzen die Risiken rechtfertigt und ob die Patienten umfassend aufgeklärt werden. Zudem ist eine Probandenversicherung für alle Teilnehmer gesetzlich vorgeschrieben.