Veröffentlicht am Mai 15, 2024

Ihr Herzrisiko ist kein isolierter Laborwert, sondern das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels mit Ihrem gesamten Lebensumfeld.

  • Soziodemografische Faktoren wie Ihr Wohnort in Deutschland und Ihr Einkommen beeinflussen Ihr Risiko nachweislich.
  • Das Zusammenspiel mehrerer Risikofaktoren (z. B. Rauchen + Bluthochdruck) wirkt nicht additiv, sondern potenziert die Gefahr.

Empfehlung: Betrachten Sie Ihr errechnetes Risiko nicht als unabänderliches Schicksal, sondern als datengestützte Aufforderung, die spezifischen, kontextabhängigen Hebel für Ihre Gesundheit zu identifizieren und zu nutzen.

Sie haben Ihre Werte in einen Online-Risikorechner eingegeben: Alter, Geschlecht, Cholesterin, Blutdruck, Raucherstatus. Sekunden später erhalten Sie eine Zahl – Ihr prozentuales Risiko, in den nächsten zehn Jahren einen Herzinfarkt zu erleiden. Diese Zahl ist ein wichtiger erster Anhaltspunkt. Doch als Epidemiologe, der täglich mit den Gesundheitsdaten der deutschen Bevölkerung arbeitet, kann ich Ihnen versichern: Diese Zahl ist nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Sie ist ein einzelnes Pixel in einem riesigen, komplexen Bild.

Die gängigen Risikomodelle leisten gute Arbeit bei der Erfassung der klassischen biologischen Faktoren. Aber sie lassen entscheidende Dimensionen außer Acht. Was ist mit dem Lärmpegel an Ihrer Hauptstraße im Ruhrgebiet? Was mit den Ernährungsgewohnheiten, die Sie unbewusst von Ihren Eltern übernommen haben? Oder dem dramatischen hormonellen Wandel, den Frauen in den Wechseljahren durchleben? Diese Elemente bilden das Risiko-Mosaik, ein Geflecht aus Genetik, Umwelt, Verhalten und soziodemografischen Determinanten, das Ihr wahres Risiko viel genauer abbildet als ein isolierter Laborwert.

Dieser Artikel bricht mit der vereinfachten Sichtweise. Wir werden nicht nur die „Was“-Frage der Risikofaktoren beantworten, sondern vor allem die „Warum“- und „Wie“-Fragen im spezifischen Kontext Deutschlands. Wir werden Ihr individuelles Risiko Schritt für Schritt kontextualisieren, um Ihnen ein realistisches und handlungsorientiertes Verständnis Ihrer Herzgesundheit zu vermitteln. Es geht darum, den Blick vom Einzelwert auf das Gesamtbild zu weiten und zu verstehen, warum Ihr Risiko mehr ist als die Summe seiner Teile.

Dieser Leitfaden wird Sie durch die verschiedenen Ebenen Ihres persönlichen Herzrisikos führen. Entdecken Sie, wie Sie offizielle Risikotabellen korrekt interpretieren und welche Faktoren weit über die klassischen Messwerte hinaus Ihre Herzgesundheit in Deutschland prägen.

Sind Sie im grünen Bereich? So lesen Sie die offiziellen Risikotabellen richtig

Offizielle Risikotabellen, wie die des SCORE2-Projekts, sind das Standardinstrument in europäischen Arztpraxen zur Abschätzung des 10-Jahres-Risikos für kardiovaskuläre Ereignisse. Sie kategorisieren Sie anhand von Alter, Geschlecht, Blutdruck, Cholesterin und Raucherstatus in Risikogruppen. Ein Ergebnis von unter 5 % für einen 50-Jährigen gilt beispielsweise oft als „niedriges Risiko“. Diese Tabellen bieten eine wichtige erste Orientierung und eine standardisierte Grundlage für das ärztliche Gespräch. Sie ermöglichen eine schnelle Einschätzung, ob Sie sich im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung in einem statistisch unauffälligen Bereich bewegen.

Die reine Existenz dieser validierten Instrumente ist jedoch nur die halbe Miete. Die entscheidende Frage ist: Werden sie auch genutzt? Hier zeigt sich eine signifikante Lücke im deutschen Gesundheitssystem. Präventionsangebote wie der „Check-Up 35“, der eine regelmäßige Erfassung dieser Risikofaktoren vorsieht, werden bei Weitem nicht flächendeckend in Anspruch genommen. Daten zeigen, dass nur etwa 50 % der berechtigten Personen den kostenfreien Check-Up der gesetzlichen Krankenkassen nutzen. Das bedeutet, die Hälfte der Bevölkerung, für die diese Risikotabellen relevant wären, erscheint gar nicht erst auf dem Radar der systematischen Prävention.

Diese Diskrepanz zwischen verfügbaren Werkzeugen und ihrer tatsächlichen Nutzung ist ein zentraler Punkt bei der Kontextualisierung Ihres Risikos. Wenn Sie Ihre Werte kennen und in einer Tabelle einordnen, gehören Sie bereits zu einer proaktiven Minderheit. Für eine epidemiologische Gesamtbetrachtung muss aber berücksichtigt werden, dass eine große Dunkelziffer von Personen mit unentdeckten Risikofaktoren existiert. Die alleinige Betrachtung der Tabellenwerte ohne das Wissen um diese Versorgungslücke kann daher zu einer trügerischen Sicherheit führen.

Warum das Herzinfarkt-Risiko bei Frauen nach den Wechseljahren dramatisch steigt

Lange Zeit galt der Herzinfarkt als typische Männerkrankheit. Diese Wahrnehmung ist aus epidemiologischer Sicht gefährlich veraltet. Bis zur Menopause genießen Frauen einen relativen Schutz, der hauptsächlich auf die gefäßschützende Wirkung des Hormons Östrogen zurückzuführen ist. Östrogen trägt dazu bei, die Blutgefäße elastisch zu halten und hat einen positiven Einfluss auf die Blutfettwerte. Mit dem Beginn der Wechseljahre und dem Abfall des Östrogenspiegels entfällt dieser natürliche Schutzmechanismus abrupt.

Die statistischen Daten aus Deutschland sprechen eine deutliche Sprache. Die Folgen dieses hormonellen Wandels sind dramatisch und messbar. Der Deutsche Herzbericht 2024 zeigt, dass die Herzinfarkt-Inzidenz bei Frauen von 111,0 pro 100.000 in der Altersgruppe der 45- bis 54-Jährigen auf 293,6 pro 100.000 bei den 55- bis 64-Jährigen ansteigt. Das ist nahezu eine Verdreifachung des Risikos in der entscheidenden Dekade um die Menopause. Dieser sprunghafte Anstieg ist weitaus stärker als bei Männern im gleichen Alter.

Die Veränderung des Risikoprofils geht über den reinen Hormonverlust hinaus. Nach den Wechseljahren kommt es bei Frauen häufig zu einer Zunahme des Bauchfetts, einer Verschlechterung der Blutzuckerwerte und einem Anstieg des Blutdrucks – allesamt eigenständige und potente Risikofaktoren. Diese biologische Kaskade macht deutlich, dass das Geschlecht ein fundamentaler Kontextfaktor ist, der das individuelle Risiko dynamisch über die Lebensspanne hinweg verändert.

Darstellung des steigenden Herzrisikos bei Frauen nach den Wechseljahren

Zusätzlich zur steigenden Inzidenz ist auch die Prognose nach einem Ereignis bei Frauen oft schlechter, was die Dringlichkeit einer geschlechtsspezifischen Prävention unterstreicht. Wie Prof. Dr. Karl-Heinz Kuck für die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie feststellt:

Frauen mit Herzklappenkrankheiten, Herzrhythmusstörungen und Herzinsuffizienz scheinen eine ungünstigere Prognose zu haben als Männer mit diesen Erkrankungen.

– Prof. Dr. Karl-Heinz Kuck, Deutsche Gesellschaft für Kardiologie

Macht Lärm krank? Wie Wohnort und Einkommen Ihr Herzrisiko beeinflussen

Ihr Herzrisiko wird nicht nur in Ihren Adern, sondern auch auf Ihrer Landkarte bestimmt. Die soziodemografischen Determinanten – also Faktoren wie Wohnort, Lärmbelastung, Luftqualität und sozioökonomischer Status – sind potente, aber oft unterschätzte Treiber für kardiovaskuläre Erkrankungen. Als Epidemiologe betrachte ich nicht nur den einzelnen Patienten, sondern die Verteilung von Krankheiten in der Bevölkerung. Und hier zeigen sich in Deutschland klare Muster.

Chronischer Stress, etwa durch Verkehrslärm, führt zu einer permanenten Aktivierung des sympathischen Nervensystems. Dies resultiert in einer erhöhten Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol, was wiederum den Blutdruck und die Herzfrequenz steigert und Entzündungsprozesse im Körper fördert. Menschen, die an stark befahrenen Straßen oder in der Einflugschneise eines Flughafens leben, sind diesem Stressor oft ununterbrochen ausgesetzt. Ihr Risiko ist somit nicht nur von ihrem Lebensstil, sondern auch von ihrer Postleitzahl geprägt.

Fallbeispiel: Regionale Unterschiede der Herzinsuffizienz in Deutschland

Eine Analyse des Versorgungsatlas zeigt deutliche regionale Unterschiede in der Prävalenz der Herzinsuffizienz. Die standardisierten Raten sind in strukturschwachen Regionen, insbesondere in den neuen Bundesländern, signifikant höher als in wirtschaftsstarken Ballungsräumen wie Hamburg oder Teilen Bayerns. Dies deutet auf einen starken Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Faktoren, der Infrastruktur und der Herzgesundheit der Bevölkerung hin.

Der folgende, auf Daten des Umweltbundesamtes basierende, vereinfachte Vergleich illustriert, wie die Lärmbelastung als Stellvertreter für Umweltfaktoren mit dem Herzrisiko korreliert.

Lärmbelastung und Herzrisiko in deutschen Regionstypen
Region Lärmbelastung >55 dB(A) Herzrisiko-Index
Rhein-Main 68% der Bevölkerung Erhöht
Ruhrgebiet 72% der Bevölkerung Stark erhöht
Ländliche Gebiete Bayern 23% der Bevölkerung Normal

Diese Daten legen nahe, dass Ihr individuelles Risiko nicht isoliert betrachtet werden kann. Es ist untrennbar mit den Umweltbedingungen und der sozioökonomischen Struktur Ihres Lebensumfeldes verbunden. Ein Risikorechner, der diese Faktoren ignoriert, unterschätzt systematisch das Risiko für Millionen von Menschen in Deutschland.

Erlerntes Risikoverhalten: Haben Sie die schlechten Gewohnheiten Ihrer Eltern geerbt?

Wenn wir von „familiärer Vorbelastung“ sprechen, denken die meisten Menschen sofort an die Genetik. Doch mindestens ebenso prägend ist das, was wir als „soziales Erbe“ bezeichnen könnten: die Verhaltensmuster, Ernährungsgewohnheiten und der Umgang mit Stress, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Sie erben nicht nur die Augenfarbe Ihrer Mutter, sondern möglicherweise auch ihre Art, auf Stress mit dem Griff zu Süßigkeiten zu reagieren. Sie übernehmen nicht nur die Statur Ihres Vaters, sondern vielleicht auch seine Gewohnheit, den Abend passiv vor dem Fernseher zu verbringen.

Diese erlernten Verhaltensweisen formen Ihr alltägliches Risikoprofil oft stärker als viele biologische Marker. Aufgewachsen in einem Haushalt, in dem fettreiches Essen und große Portionen als Ausdruck von Gemütlichkeit gelten, wird es Ihnen als Erwachsener schwerer fallen, ein gesundes Körpergewicht zu halten. Wenn in Ihrer Familie Sport nie eine Rolle spielte, ist die Hürde, selbst eine aktive Routine zu etablieren, ungleich höher. Diese Muster sind tief in unserer Psyche verankert und laufen oft unbewusst ab.

Die epidemiologische Forschung bestätigt, dass das Risikoverhalten von Eltern einen starken prädiktiven Wert für das Verhalten ihrer Kinder hat. Dies betrifft das Rauchen, den Alkoholkonsum, die Ernährung und die körperliche Aktivität. Die gute Nachricht ist jedoch: Im Gegensatz zur genetischen Veranlagung ist dieses soziale Erbe veränderbar. Der erste und wichtigste Schritt ist, sich diese erlernten Muster bewusst zu machen.

Generationsübergreifende Gesundheitsmuster in deutschen Familien

Ein Familien-Gesundheits-Genogramm ist ein einfaches, aber wirkungsvolles Werkzeug, um diese unsichtbaren Verbindungen aufzudecken. Es hilft Ihnen, wiederkehrende Krankheiten und Verhaltensweisen über Generationen hinweg zu visualisieren und so Ihr eigenes „ererbtes“ Risikoverhalten zu identifizieren. So können Sie gezielt an den Stellschrauben drehen, die nicht in Ihren Genen, sondern in Ihrer Erziehung liegen.

Ihr Plan zur Erstellung eines Familien-Gesundheits-Genogramms

  1. Generationen abbilden: Zeichnen Sie einen einfachen Stammbaum mit drei Generationen auf: Ihre Großeltern, Ihre Eltern und sich selbst (ggf. mit Geschwistern).
  2. Krankheiten notieren: Notieren Sie für jede Person bekannte Herzkrankheiten (z.B. Herzinfarkt, Schlaganfall, Bluthochdruck) und, falls bekannt, das Alter beim Auftreten sowie die Todesursache.
  3. Lebensstil erfassen: Ergänzen Sie bekannte Lebensstilgewohnheiten wie Raucher/Nichtraucher, regelmäßige sportliche Aktivität (oder deren Fehlen) und typische Ernährungsmuster (z.B. traditionell deftig, mediterran).
  4. Muster erkennen: Verwenden Sie farbige Stifte, um wiederkehrende Muster zu markieren. Zum Beispiel: Rot für Raucher, Blau für Bluthochdruck. So werden Zusammenhänge sofort sichtbar.
  5. Ärztliches Gespräch vorbereiten: Nehmen Sie dieses Genogramm mit zu Ihrem nächsten Check-Up, um es mit Ihrem Hausarzt zu besprechen. Es liefert eine unschätzbare Kontextinformation für Ihre persönliche Risikobewertung.

Rauchen, Blutdruck, Cholesterin: Warum 1+1+1 mehr als 3 ergibt

Ein fundamentaler Fehler bei der laienhaften Risikobewertung ist die Annahme, dass sich Risikofaktoren einfach addieren. Die Realität ist weitaus gefährlicher: Risikofaktoren potenzieren sich gegenseitig. Dieses Phänomen bezeichnen wir in der Epidemiologie als Synergie-Effekt. Stellen Sie sich vor, jeder Risikofaktor gießt nicht nur sein eigenes kleines Glas voll, sondern vergrößert gleichzeitig die Gläser der anderen Faktoren. Das Gesamtrisiko steigt also nicht linear, sondern exponentiell.

Ein konkretes Beispiel: Ein leicht erhöhter Blutdruck allein mag Ihr 10-Jahres-Risiko nur geringfügig steigern. Leicht erhöhte Cholesterinwerte für sich genommen ebenfalls. Wenn Sie aber beide Faktoren aufweisen und zusätzlich rauchen, explodiert das Risiko förmlich. Das liegt daran, dass die Faktoren auf zellulärer Ebene zusammenarbeiten: Das Rauchen schädigt die empfindliche Innenwand der Arterien (Endothel). Der hohe Blutdruck übt zusätzlichen mechanischen Stress auf diese bereits geschädigten Wände aus. Und das überschüssige LDL-Cholesterin kann sich in diesen „Verletzungen“ viel leichter ablagern und die gefährlichen Plaques bilden, die zu einem Herzinfarkt führen.

Die klinische Forschung liefert beeindruckende Belege für diesen Multiplikatoreffekt, aber auch für die enorme Wirksamkeit, mehrere Faktoren gleichzeitig anzugehen. Die Umkehrung des Synergie-Effekts ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Prävention.

Fallstudie: Der exponentielle Nutzen der kombinierten Prävention

Die OASIS-5-Studie, deren Ergebnisse im Deutschen Ärzteblatt diskutiert wurden, zeigt eindrücklich das Potenzial der multiplen Intervention. Demnach senkt allein der Rauchstopp bei Patienten nach einem akuten Koronarsyndrom das Risiko für einen weiteren Myokardinfarkt innerhalb von sechs Monaten um 43 %. Wird dieser Rauchstopp jedoch mit einer gesunden Ernährung und regelmäßiger Bewegung kombiniert, steigt die Risikoreduktion exponentiell auf über 70 % an. Dies belegt, dass der gemeinsame Angriff auf mehrere Faktoren eine weitaus größere Schutzwirkung entfaltet als die Summe der Einzelmaßnahmen.

Das deutsche Gesundheitssystem trägt diesem Synergie-Effekt Rechnung, indem es kombinierte Ansätze fördert. So informieren die Gesundheitsministerien darüber, dass gesetzliche Krankenkassen die Kosten für bis zu zwei zertifizierte Präventionskurse pro Jahr übernehmen. Viele dieser Kurse, etwa zur Stressbewältigung durch Bewegung oder zur gesunden Ernährung, adressieren bewusst mehrere Risikofaktoren gleichzeitig und nutzen so den positiven Synergie-Effekt.

Nicht nur ein Gen: Wie die Summe vieler kleiner Varianten Ihr Risiko bestimmt

Die Frage nach der genetischen Veranlagung für Herzerkrankungen ist komplexer als oft angenommen. Es ist selten ein einzelnes „Herzinfarkt-Gen“, das über Ihr Schicksal entscheidet. Viel häufiger ist es das Zusammenspiel hunderter oder tausender kleiner genetischer Varianten, von denen jede für sich nur einen winzigen Effekt hat. In der Summe können diese Varianten jedoch Ihr Grundrisiko signifikant erhöhen oder senken. Dieses Konzept wird als polygenes Risiko bezeichnet.

Stellen Sie sich Ihr genetisches Risiko wie eine Handvoll Sand vor. Ein einzelnes Sandkorn (eine Genvariante) ist unbedeutend. Aber eine ganze Handvoll kann bereits ein beachtliches Gewicht haben. Ein sogenannter Polygenic Risk Score (PRS) versucht, genau dieses „Gewicht“ zu messen. Er analysiert eine Vielzahl bekannter Genorte und berechnet daraus einen Gesamtwert, der Ihr angeborenes, lebenslanges Grundrisiko für eine bestimmte Krankheit, wie die koronare Herzkrankheit, abbildet.

Dieses polygene Risiko ist zu unterscheiden von seltenen, monogenen Erkrankungen wie der familiären Hypercholesterinämie. Dort ist ein einzelnes Gen stark verändert, was zu extrem hohen Cholesterinwerten von Geburt an führt und ein sehr hohes Infarktrisiko bedingt. Das polygene Risiko ist subtiler. Es erklärt, warum manche Menschen trotz eines gesunden Lebensstils ein höheres Risiko haben als andere, oder warum umgekehrt manche Raucher mit hohem Blutdruck sehr alt werden, ohne einen Infarkt zu erleiden. Ihr polygenes Profil bildet den genetischen „Nährboden“, auf dem Lebensstil- und Umweltfaktoren ihre Wirkung entfalten.

Die Kenntnis des eigenen PRS kann in Zukunft ein wertvolles Werkzeug für die personalisierte Prävention sein. Personen mit einem hohen polygenen Risiko könnten von einer früheren und intensiveren Überwachung und Behandlung von Risikofaktoren wie Cholesterin und Blutdruck profitieren. Es ist jedoch wichtig zu betonen: Ein hoher PRS ist keine Diagnose und kein unabwendbares Schicksal. Er ist vielmehr ein wichtiger Kontextfaktor, der die Dringlichkeit von Präventionsmaßnahmen unterstreicht. Ein gesunder Lebensstil kann ein hohes genetisches Risiko nachweislich zu einem großen Teil kompensieren.

Cholesterin und Blutzucker: Ab welchen Grenzwerten müssen Sie wirklich handeln?

Blutdruck- und Cholesterinwerte gehören zu den am häufigsten gemessenen Parametern in der Herz-Kreislauf-Prävention. Doch starre Grenzwerte, die für alle Menschen gleichermaßen gelten, sind ein überholtes Konzept. Die moderne Kardiologie und Epidemiologie verfolgen einen kontextabhängigen Ansatz: Der optimale Zielwert für Ihr LDL-Cholesterin oder Ihren Blutzucker hängt maßgeblich von Ihrem Gesamtrisikoprofil ab. Ein Wert, der für eine gesunde 30-Jährige unbedenklich ist, kann für einen 60-jährigen Diabetiker bereits eine unmittelbare Behandlungsindikation darstellen.

Es geht also nicht um die Frage „Ist mein Wert hoch?“, sondern um „Ist mein Wert für mich und meine spezifische Risikokonstellation zu hoch?“. Die offiziellen Leitlinien, zum Beispiel die der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), definieren deshalb unterschiedliche Zielkorridore. Für eine Person ohne weitere Risikofaktoren mag ein LDL-Cholesterin von 115 mg/dl akzeptabel sein. Für einen Patienten, der bereits einen Herzinfarkt erlitten hat, liegt der Zielwert heute bei unter 55 mg/dl, da hier das Risiko eines weiteren Ereignisses drastisch gesenkt werden muss.

Diese risikoadaptierte Steuerung ist von entscheidender Bedeutung. Sie verhindert einerseits eine Überbehandlung von Personen mit niedrigem Gesamtrisiko und stellt andererseits sicher, dass Hochrisikopatienten die aggressive Therapie erhalten, die sie benötigen. Die Entscheidung, ab wann gehandelt werden muss, ist also immer eine individuelle Abwägung im Kontext aller bekannten Faktoren – inklusive Alter, Geschlecht, Blutdruck, Diabetes, Raucherstatus und bereits bestehenden Erkrankungen.

Die folgende Tabelle, die sich an den Leitlinien der DGK orientiert, veranschaulicht das Prinzip der risikoadaptierten LDL-Zielwerte und zeigt, wie der Behandlungsansatz je nach individuellem Profil variiert.

LDL-Zielwerte nach Risikoprofil gemäß DGK-Leitlinien
Risikoprofil LDL-Zielwert Behandlungsansatz
Jung und gesund <115 mg/dl Lebensstiländerung
Diabetes mellitus <70 mg/dl Ernährungsberatung + ggf. Statine
Nach Herzinfarkt <55 mg/dl Hochdosis-Statintherapie

Ihr Laborbefund ist somit keine isolierte Zahl, sondern ein Datenpunkt, der erst durch die Einordnung in Ihr persönliches Risiko-Mosaik seine wahre Bedeutung erhält. Nur so kann eine rationale und effektive Entscheidung über das weitere Vorgehen getroffen werden.

Das Wichtigste in Kürze

  • Ihr Herzrisiko ist ein komplexes Mosaik und nicht nur eine Zahl aus einem Online-Rechner. Faktoren wie Wohnort, Geschlecht und Familiengeschichte sind entscheidend.
  • Mehrere Risikofaktoren addieren sich nicht, sie potenzieren sich. Der Synergie-Effekt erklärt, warum die Kombination aus Rauchen, Bluthochdruck und hohem Cholesterin besonders gefährlich ist.
  • Die Unterscheidung zwischen relativem und absolutem Risiko ist essenziell. Eine „50%-Risikoerhöhung“ klingt dramatisch, kann aber in absoluten Zahlen eine sehr kleine Veränderung bedeuten.

Relativ vs. Absolut: Wie verstehen Sie „50% Risikoerhöhung“ richtig?

Kaum etwas führt bei der Interpretation von Gesundheitsrisiken zu mehr Verwirrung und Angst als die Verwechslung von relativem und absolutem Risiko. Medien und Studien verwenden oft den Begriff des relativen Risikos, weil er eindrucksvoller klingt. Eine Schlagzeile wie „Faktor X erhöht das Herzinfarktrisiko um 50 %“ erzeugt Aufmerksamkeit, ist aber ohne Kontext wertlos und oft irreführend.

Das relative Risiko beschreibt die prozentuale Veränderung im Vergleich zu einer anderen Gruppe. Das absolute Risiko hingegen beziffert die tatsächliche Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis in einem bestimmten Zeitraum eintritt. Der entscheidende Unterschied liegt im Ausgangswert. Eine 50-prozentige Erhöhung eines sehr kleinen Ausgangsrisikos resultiert immer noch in einem kleinen Gesamtrisiko. Eine 50-prozentige Erhöhung eines bereits hohen Risikos ist hingegen dramatisch.

Die Fähigkeit, diese beiden Konzepte zu unterscheiden, ist die wichtigste Kompetenz, um Gesundheitsstatistiken rational einzuordnen und sich nicht von Panikmache leiten zu lassen. Es ist der letzte, entscheidende Schritt in der Kontextualisierung Ihres persönlichen Risikos.

Praxisbeispiel: Eine „50% Risikoerhöhung“ korrekt verstehen

Ein Beispiel der Deutschen Herzstiftung verdeutlicht den Unterschied: Von 100 Männern im Alter von 55 Jahren erleiden in Deutschland statistisch gesehen etwa 2 innerhalb von 10 Jahren einen Herzinfarkt. Das ist das absolute Risiko von 2 %. Nehmen wir an, ein Risikofaktor (z.B. moderates Übergewicht) erhöht dieses Risiko relativ um 50 %. Das bedeutet nicht, dass das neue Risiko 52 % beträgt. Es bedeutet: 50 % von 2 % = 1 %. Das neue absolute Risiko beträgt also 2 % + 1 % = 3 %. Statt 2 von 100 Männern sind nun 3 von 100 Männern betroffen. Das Risiko ist gestiegen, ja, aber es bleibt auf einem absolut gesehen niedrigen Niveau.

Diese Unterscheidung ist kein statistisches Zahlenspiel, sondern ein mächtiges Werkzeug gegen unbegründete Gesundheitsängste. Sie erlaubt Ihnen, neue Studienergebnisse und Nachrichten einzuordnen und rationale Entscheidungen zu treffen. Bevor Sie sich von einer prozentualen Angabe beunruhigen lassen, fragen Sie immer: Wie hoch ist das absolute Ausgangsrisiko? Erst dann können Sie die wahre Tragweite der Information bewerten.

Das Verständnis des Unterschieds zwischen relativem und absolutem Risiko ist ein wirksames Mittel gegen Gesundheitsängste.

– Prof. Dr. Heribert Schunkert, Deutsche Herzstiftung

Der nächste logische Schritt ist, dieses Wissen anzuwenden. Nutzen Sie den nächsten Arztbesuch, um diese kontextualisierten Risikofaktoren zu besprechen und einen wirklich personalisierten Präventionsplan zu erstellen. So wird aus einer abstrakten Zahl eine konkrete Handlungsstrategie für ein längeres, gesünderes Leben.

Häufige Fragen zum genetischen Herzrisiko

Was ist der Unterschied zwischen polygenem Risikoscore und familiärer Hypercholesterinämie?

Der polygene Risikoscore erfasst viele Gene mit jeweils kleinem Effekt, während bei familiärer Hypercholesterinämie meist ein einzelnes Gen mit großem Effekt betroffen ist, was zu sehr hohen Cholesterinwerten von Geburt an führt.

Werden Gentests für Herzrisiko von der Krankenkasse übernommen?

Eine humangenetische Beratung und Diagnostik kann bei begründetem Verdacht auf eine monogene Erkrankung wie die familiäre Hypercholesterinämie von der Kasse übernommen werden. Kommerzielle Tests zur Bestimmung des polygenen Risikoscores (PRS) sind in der Regel Selbstzahlerleistungen.

Wie bespreche ich Gentest-Ergebnisse mit meinem Hausarzt?

Bringen Sie die kompletten Testergebnisse und den Befund des durchführenden Labors mit zu Ihrem Arzt. Bitten Sie um eine Einordnung des genetischen Risikos im Kontext Ihrer anderen, modifizierbaren Risikofaktoren (Blutdruck, Cholesterin, Lebensstil) und Ihrer Familiengeschichte.

Geschrieben von Jonas Richter, Medizininformatiker und Consultant für Digital Health. Spezialist für Wearables, Telemedizin und künstliche Intelligenz in der Kardiologie, mit einem scharfen Blick für Datenschutz und technische Validität.